Viele Juristen mรถchten lรคnger arbeiten, andere frรผher in den Ruhestand gehen. Im Mittelpunkt der aktuellen Entscheidung stand ein 71-jรคhriger Anwaltsnotar aus NRW, der sich gegen seine zwangsweise Versetzung in den Ruhestand mit Erreichen des 70. Lebensjahres wehrte โ und vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hatte.
Inhaltsverzeichnis
Was ein Anwaltsnotar ist โ und wo die Altersgrenze geregelt war
Anwaltsnotar:innen sind Rechtsanwรคlt:innen mit zusรคtzlicher notarieller Qualifikation. Sie รผben die notarielle Tรคtigkeit neben ihrer Anwaltskanzlei aus. Die Bundesnotarordnung sah hierfรผr bislang eine starre Altersgrenze von 70 Jahren vor.
Mit Erreichen dieser Grenze wurden Anwaltsnotar:innen unabhรคngig von ihrer individuellen Leistungsfรคhigkeit in den Ruhestand versetzt.
Der Weg durch die Instanzen: OLG Kรถln und BGH wiesen die Klage ab
Nachdem der Betroffene 70 wurde, ordnete die Aufsicht die Versetzung in den Ruhestand an. Die berufsgerichtliche Klage gegen den Prรคsidenten des Oberlandesgerichts Dรผsseldorf blieb zunรคchst ohne Erfolg: Der Notarsenat des OLG Kรถln wies die Klage ab, auch vor dem Bundesgerichtshof scheiterte der Klรคger. Erst die Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe brachte die Wende.
Kern der verfassungsrechtlichen Prรผfung: Berufsfreiheit und Verhรคltnismรครigkeit
Das Bundesverfassungsgericht stellte die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG in den Mittelpunkt. Zwar sind die mit der Altersgrenze verfolgten Ziele โ Funktionsfรคhigkeit der vorsorgenden Rechtspflege, Generationengerechtigkeit und ein mรถglicher Schutz vor altersbedingten Leistungseinbuรen โ grundsรคtzlich legitim.
Fรผr das Anwaltsnotariat tragen sie heute aber nicht mehr hinreichend: Seit Jahren besteht dort ein nachhaltiger Bewerbermangel, und ein pauschaler Zusammenhang zwischen hรถherem Lebensalter und nachlassender beruflicher Leistungsfรคhigkeit ist wissenschaftlich nicht allgemein belegbar.
Eine starre Altersgrenze greift deshalb unverhรคltnismรครig in die Berufsfreiheit von Anwaltsnotar:innen ein.
Geltungsbereich klar begrenzt: Nur Anwaltsnotar:innen, nicht Nur-Notar:innen
Die Entscheidung bezieht sich ausdrรผcklich auf das Anwaltsnotariat. Fรผr hauptberufliche Nur-Notar:innen gelten die bisherigen Altersgrenzen fort. Der Grund: Dort liegt die Lage am Bewerbermarkt anders, sodass die verfolgten Ziele die Grenze weiterhin tragen kรถnnen.
Rechtsfolge: Unvereinbarkeit mit Fortgeltung โ Gesetzgeber muss bis 30.06.2026 nachbessern
Karlsruhe hat die einschlรคgigen Regelungen zur 70-Jahre-Grenze im Anwaltsnotariat als mit der Verfassung unvereinbar erklรคrt, ihre Anwendung jedoch befristet fortgelten lassen. Der Gesetzgeber muss bis zum 30. Juni 2026 eine verfassungskonforme Neuregelung schaffen.
Bis dahin bleibt die Altersgrenze formal in Kraft, allerdings mit wichtigen Konsequenzen fรผr die Praxis.
Praxis jetzt: Kein automatischer โRรผckkehr-Anspruchโ, aber erneute Bewerbung mรถglich
Fรผr bereits ausgeschiedene Anwaltsnotar:innen bedeutet das Urteil keinen unmittelbaren Automatismus zurรผck ins Amt. In der รbergangszeit kรถnnen sie sich jedoch auf neu ausgeschriebene Stellen erneut bewerben. Damit schafft das Gericht einen fairen Ausgleich zwischen Bestandsschutz, geordneten Verfahren und der individuellen Berufsfreiheit.
Mehr individuelle Leistungsprรผfung statt starre Alterslinie
Die Entscheidung korrigiert eine pauschale Altersvorgabe, die unter heutigen Markt- und Erkenntnisbedingungen das Ziel verfehlt. Fรผr das Anwaltsnotariat rรผckt die individuelle Eignung wieder in den Vordergrund.
Wie der Gesetzgeber die Balance zwischen Funktionsfรคhigkeit der Rechtspflege, Zugangschancen fรผr den Nachwuchs und Berufsfreiheit kรผnftig ausformt, muss bis Ende Juni 2026 geklรคrt werden.