Bürgergeld: Jobcenter muss Mehrbedarf für Kontakt mit behindertem Kind bezahlen

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Anders nicht gedeckte und nicht nur einmalige Aufwendungen zum Besuch eines nahen Angehörigen können in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf begründen (BSG Urteil vom 28. 11. 2018 – B 14 AS 48/17 R – ).

Die Kontaktpflege mit der volljährigen, behinderten Tochter seitens der Mutter stellt eine atypische Bedarfslage da, die es rechtfertigt, dass das Jobcenter die Fahrtkosten zum behinderten Kind im betreutem Wohnen als Härtefallmehrbedarf übernehmen muss ( Besuch 1x im Monat für ein Wochenende ).

Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die Mutter für ihre behinderte Tochter nicht auf anderem Wege in angemessener Weise für ihre Tochter da sein und ihr beistehen kann.

Die Beziehung zwischen der Klägerin und ihrer schwerbehinderten Tochter ist – unabhängig von dem Bestehen eines Umgangsrechts – von besonderer Nähe, familiärer Verantwortlichkeit sowie Beistandsbereitschaft geprägt und löst damit eine besondere Bedarfslage nach § 21 Abs. 6 SGB 2 aus

Kurzbegründung Gericht

Zwar sind Aufwendungen zur Kontaktpflege unter Angehörigen der Art nach grundsätzlich ausschließlich aus dem Regelbedarf nach § 20 SGB II zu bestreiten. Anders nicht gedeckte und nicht nur einmalige Aufwendungen zum Besuch eines nahen Angehörigen können aber in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II begründen.

Ein solcher Bedarf kann, je nach den Umständen des Einzelfalls, auch dann vorliegen, wenn die Aufwendungen für die Kontaktpflege zwischen Erwachsenen für die personale Existenz von herausgehobener Bedeutung sind (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2018 – B 14 AS 48/17 R).

Insbesondere, wenn eine Kommunikation über Brief, Telefon oder Internetdienste nicht möglich oder ausreichend erscheint, kann sich ein existenzsicherungsrechtlich beachtlicher Besuchsanlass ergeben. Ebenfalls in die Auslegung eingestellt werden muss der besondere Schutz von Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen nach Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG).

Das Gericht hatte hier keinen Zweifel daran, dass sich aus dem von der Klägerin und ihrer Tochter gelebten und von Art. 6 Abs. 1 GG umfassten Verhältnis im Lichte der die Tochter der Klägerin treffenden gesundheitlichen Einschränkungen eine Beurteilung der Aufwendungen zur monatlichen unmittelbaren Kontaktpflege als besonderer Bedarf ergibt. Denn die Klägerin und ihre Tochter sind infolge der die Tochter treffenden gesundheitlichen Einschränkungen gerade in spezifischer Weise daran gehindert, einen verwandtschaftlichen Kontakt in typischer Weise zu pflegen.

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Die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen zwischen Mutter und Tochter lässt sich damit gerade nicht wie im – Normalfall – sicherstellen

Die Klägerin und Mutter kann nicht auf anderem Wege in angemessener Weise für ihre Tochter da sein und ihr beistehen. Dem steht nicht entgegen, dass Aufwendungen zur Kontaktpflege unter Angehörigen grundsätzlich aus dem Regelbedarf zu bestreiten sind und in den regelbedarfsrelevanten Verbrauchsgruppen Aufwendungen für Verwandtenbesuche eingeschlossen sind (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2018 – B 14 AS 48/17 R).

Hinweis Gericht

Das Gericht hat keine Zweifel, dass bei einem regelmäßigen monatlichen Aufwand von – mindestens – 20 Euro ein erhebliches Abweichen von dem durchschnittlichen Bedarf besteht (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2010 − B 14 AS 13/10 R zu einem Anspruch auf Übernahme monatlicher Aufwendungen für Hygienekosten in Höhe von 20,45 Euro nach § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII; siehe auch Senatsurteil vom 1.10.2020, L 4 AS 66/19 zu monatlichen Aufwendungen von unter 10 Euro).

Fazit

1. Verpflichtung des Jobcenters zur Bewilligung eines Härtefallmehrbedarfs bei Vorliegen einer atypischen Bedarfslage – hier der Kontaktpflege mit dem behinderten Kind.

2. Die Kontaktpflege mit der volljährigen, behinderten Tochter seitens der Mutter stellt eine atypische Bedarfslage da, die es recht fertigt, dass das Jobcenter die Fahrtkosten zum behinderten Kind im betreutem Wohnen als Härtefallmehrbedarf übernehmen muss ( Besuch 1x im Monat für ein Wochenende ).

Anmerkung vom Experten für Sozialrecht Detlef Brock

Geld vom Jobcenter für Aufwendungen zum Besuch eines nahen Angehörigen können in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf begründen.

Fahrtkosten für die Besuche des erwachsenen Sohnes zur erkrankten Mutter ins Klinikum muss das Jobcenter als Härtefallmehrbedarf übernehmen.

Die vom zu gewährleistenden Existenzminimum umfasste Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ist nicht von vornherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist (BSG, Urt. v. 26.01.2022 – B 4 AS 3/21 R ).