Das Sozialgericht München hat mit einem Urteil einem Kläger aus Oberbayern in einem Grundsatzstreit um die Übernahme von Wohnkosten recht gegeben. Der Landkreis hatte nur einen Teil der tatsächlichen Mietausgaben des Mannes übernommen – zu Unrecht, wie das Gericht nun feststellte.
In der Entscheidung stellt das Gericht klar: Eine pauschale Begrenzung der Unterkunftskosten ist nur dann zulässig, wenn sie auf einem methodisch und statistisch schlüssigen Konzept basiert. Fehlt ein solches, kann die tatsächliche Miete als Bedarf anerkannt werden – selbst dann, wenn sie die offiziellen Mietobergrenzen übersteigt.
Kern der Entscheidung: Tatsächliche Mietkosten müssen bei unschlüssigem Konzept vollständig übernommen werden
Der Kläger, ein alleinstehender Mann, bezog im Jahr 2020 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Seine monatliche Gesamtmiete für eine 60 Quadratmeter große Wohnung belief sich auf 630 Euro. Das zuständige Jobcenter erkannte aber nur 567,50 Euro an – auf Grundlage eines Mietobergrenzen-Konzepts des Landkreises. Der Differenzbetrag von 62,50 Euro pro Monat wurde dem Kläger nicht erstattet. Dagegen wehrte er sich mit Erfolg.
Feststellung des Gerichts:
Das vom Landkreis verwendete Konzept zur Ermittlung der angemessenen Mietkosten sei „nicht schlüssig“ – also methodisch fehlerhaft und inhaltlich nicht belastbar. Damit entfällt die Grundlage, um die Wohnkosten des Klägers zu kürzen.
Warum das Konzept des Landkreises scheiterte: Kritik an Datenbasis, Methodik und Transparenz
Das Konzept, das der Landkreis M. zur Bestimmung von Mietobergrenzen heranzog, stammte aus dem Jahr 2018 und beruhte auf Mietdaten, die zwischen Oktober 2017 und März 2018 erhoben wurden. Eine Aktualisierung zum Juli 2020, wie ursprünglich vorgesehen, unterblieb. Für das Gericht ist das ein massives Problem: Das Konzept sei nicht nur veraltet, sondern auch methodisch fragwürdig – und damit in seiner Gesamtheit unbrauchbar.
Die wichtigsten Kritikpunkte im Überblick:
1. Veraltete Datenbasis:
Die verwendeten Mietdaten waren zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung bereits mehr als zwei Jahre alt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dürfen Daten höchstens zwei Jahre alt sein – andernfalls muss eine Fortschreibung oder Neuberechnung erfolgen. Diese Aktualisierung blieb aus.
2. Fehlerhafte Vergleichsräume:
Der Landkreis hatte das Kreisgebiet in vier sogenannte „Wohnungsmarkttypen“ unterteilt – basierend auf sozioökonomischen Merkmalen wie Einkommen, Bodenrichtwerten und Mietspiegeln. Das Gericht bewertete diese Clusterbildung als unzulässig, da sie eine soziale Segregation befördert. Vergleichsräume dürfen laut BSG nicht entlang von Armuts- oder Reichtumsgrenzen gezogen werden.
3. Ungleichgewicht in der Datenquelle:
Die Mietdaten stammten zu einem überwiegenden Teil aus dem sozialen Wohnungsbau oder von Transferleistungsempfängern selbst. Relevante Marktsegmente – insbesondere Mietpreise von Wohnungen für einkommensschwache Erwerbstätige außerhalb des Leistungsbezugs – blieben außen vor. Das führt laut Gericht zu einer systematischen Verzerrung der Mietwerte nach unten.
4. Unklare Berechnungsweise:
Weder die Kriterien zur Auswahl der einbezogenen Mietdaten noch die Art ihrer statistischen Verarbeitung (z. B. Definition von „Ausreißern“) wurden nachvollziehbar offengelegt. Auch die Herleitung der Endwerte für die Mietobergrenzen ist im Konzept nicht erklärt. Das verletzt Transparenzpflichten und macht eine gerichtliche Überprüfung unmöglich.
5. Unzureichende Angebotsprüfung:
Der Landkreis hatte zwar eine Angebotsanalyse durchgeführt, um zu prüfen, ob Wohnungen zu den festgelegten Mietgrenzen tatsächlich verfügbar sind. Doch auch hier fehlten Angaben zur Repräsentativität der Daten, zur Verteilung der Anbieter (öffentlich/privat) und zur Unterscheidung zwischen realen Angeboten und theoretischen Inseraten.
Folge für die Verwaltungspraxis:
Ein solches Konzept darf nicht mehr zur Kürzung von Wohnkosten herangezogen werden. Denn nur wenn Mietobergrenzen auf nachvollziehbaren, repräsentativen und aktuellen Daten beruhen, ist ein Abweichen von der tatsächlichen Miete zulässig.
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Kein Rückgriff auf “Wohngeldtabelle +10%” – Gericht kritisiert bisherige BSG-Linie
Üblicherweise greifen Sozialgerichte bei fehlenden oder fehlerhaften Konzepten auf die sogenannte „Wohngeldtabelle plus 10 Prozent“ zurück, um einen Pauschalwert für angemessene Mieten festzulegen. Auch diese Praxis wurde hier explizit verworfen.
Begründung des Gerichts:
Die Wohngeldwerte seien selbst dann nicht heranziehbar, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – noch unter den unzureichend belegten Werten des ursprünglichen Konzepts liegen. Das führe zu einem Verstoß gegen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), weil die tatsächlichen Lebensverhältnisse nicht berücksichtigt würden.
Konsequenz:
Die tatsächlichen Mietkosten – in diesem Fall 630 Euro monatlich – sind in voller Höhe als angemessen anzuerkennen.
Wem das Urteil nützt – und wie Betroffene es nutzen können
Das Urteil entfaltet eine Wirkung, die weit über den konkreten Einzelfall hinausreicht. Zahlreiche Kommunen stützen sich bei der Bestimmung sogenannter angemessener Unterkunftskosten auf vergleichbare Konzepte, deren rechtliche Belastbarkeit zunehmend in Zweifel gezogen wird.
Für Betroffene eröffnet sich durch die Entscheidung des Sozialgerichts München nun die Möglichkeit, sich aktiv auf diese Rechtsprechung zu berufen – insbesondere dann, wenn das zugrunde gelegte Mietobergrenzen-Konzept veraltet oder intransparent ist. Gleiches gilt, wenn sie nachvollziehbar darlegen können, dass ein Wohnungswechsel entweder praktisch nicht umsetzbar oder sozial unzumutbar ist.
Maßgeblich ist dabei auch, ob die tatsächlichen Mietkosten die örtlichen Lebenshaltungskosten realistisch abbilden und zur Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums notwendig sind.
Wachsende Bedeutung angesichts angespannter Wohnungsmärkte
Die Entscheidung kommt in einer Zeit zunehmender Wohnungsnot. Auch in ländlichen Regionen steigen die Mietpreise rasant – vielerorts, ohne dass die öffentlich festgelegten Mietobergrenzen mithalten. Das schafft für Transferleistungsempfänger eine faktische Lücke zwischen Anspruch und Realität. Das Urteil des Sozialgerichts München macht deutlich: Diese Lücke kann und darf nicht durch formale Verwaltungskonzepte legitimiert werden.