Bürgergeld: Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung eines behinderten Kindes ist Härtefallmehrbedarf

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Bürgergeld-Urteil: Das Jobcenter muss die Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung eines behinderten Kindes als Härtefallmehrbedarf übernehmen.

1. Fahrtkosten zur Reittherapie sind im Einzelfall als Mehrbedarf nach § 21. Abs. 6 SGB II vom JobCenter zu übernehmen ( entgegen SG Berlin, Urteil vom 16. Februar 2017 – S 43 AS 40549/13, n.v. ).

2. Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung ( medizinisch erforderlichen Therapie) eines behinderten Kindes stellen einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II dar, wenn die Benutzung eines Pkw und die Begleitung durch ein Elternteil notwendig ist.

3.In pauschalierter Betrachtungsweise sind entsprechend § 5 Abs. 1 Bundesreisekostengesetz (BRKG) 20 Cent je gefahrenen Kilometer anzusetzen ( vgl. (BSG, Urteil vom 04. Juni 2014 – B 14 AS 30/13 R -).

So entschieden vom Berlin, Urt. v. 18.01.2018 – S 179 AS 3988/16 –

Begründung:

Mehrbedarf – unabweisbarer laufender besonderer Bedarf – Fahrtkosten zu ambulanten Behandlungen – Notwendigkeit der Begleitung durch Elternteil und Nutzung eines Pkws

Ob es sich bei Fahrtkosten um einen besonderen unabweisbaren Bedarf handelt oder ob dieser vom Regelsatz umfasst ist und keinen besonderen Bedarf darstellen kann, wird nicht einheitlich in der Rechtsprechung und Literatur beurteilt .

Bejahend

Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung, wenn am Wohnort keine adäquaten Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, Bayerisches LSG, Beschluss vom 09. März 2017 – L 7 AS 167/17 B ER; Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung, LSG NRW, Beschluss vom 15. Februar 2016 – L 7 AS 1681/15 B

Ablehnend:

Wenn die Fahrtkosten zu Ärzten den im Regelbedarf für Verkehr enthaltenen Anteil nicht deutlich übersteigen LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Dezember 2017 – L 7 AS 3405/17; Fahrten zu ambulanten Behandlungen, Sächsisches LSG, Beschluss vom 25. September 2013 – L 7 AS 83/12 NZB

Einzelfallprüfung ist entscheidend

Nach Auffassung des Gerichts stellen die Fahrkosten ungeachtet des Umstandes, dass im Regelbedarf ein Anteil für Fahrkosten enthalten ist, einen besonderen Bedarf des Einzelfalls (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 2014 – B 4 AS 4/14 R) dar.

Fahrkosten begründen eine atypische Bedarfslage

Denn die Fahrkosten für die ambulante Therapie begründen in der vorliegenden Häufigkeit und Dauer wesentlich über das hinausgehen, was für normale” Empfänger von Grundsicherungsleistungen gilt.

Begleitperson ist erforderlich

Außerdem sind in die Betrachtung zusätzlich die Fahrtkosten des täglichen Bedarfs und die Fahrtkosten zu den weiteren Behandlungen der minderjährigen Klägerin, die zwingende Benutzung des Pkw und die zwingende Begleitung der minderjährigen Tochter durch die Mutter einzustellen.

Der Bedarf ist auch unabweisbar

Denn er ist insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt.

In zeitlicher Hinsicht muss es sich um einen unaufschiebbaren Bedarf handeln

Die Therapie der minderjährigen Antragstellerin war unaufschiebbar, da die Entwicklungsverzögerung aktuell behandelt werden musste, um in der kindlichen Entwicklung Fortschritte zu fördert.

Zuwendungen Dritter waren nicht vorhanden

Denn Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen nur in besonderen Ausnahmefällen übernommen.

Mutter des Kindes hatte keine Einsparmöglichkeiten

Weil es dem behinderten Kind nicht zu zumuten ist, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, um zur Reittherapie zu gelangen.

Keine Bagatellgrenze von 10% des Regelbedarfs

Der Bedarf der behinderten Klägerin für Fahrtkosten für die Reittherapie weicht seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf ab und unterfällt insofern nicht der speziellen Bagatellgrenze, die in § 21 Abs. 6 SGB II durch das Tatbestandsmerkmal erheblich festgelegt worden ist.

Anderer Auffassung das SG Berlin, 43.Kammer

SG Berlin, Urteil vom 16. Februar 2017 – S 43 AS 40549/13 – im Fall der Klägerin bei nur einer Fahrt im Monat hat das SG Berlin, Urteil vom 16. Februar 2017, S 43 AS 40549/13 keine erhebliche Abweichung vom Durchschnitt erkannt

Dieser Auffassung folgt die 179. Kammer nicht, denn diese Entscheidung übersieht den neben den Fahrten zur Reittherapie anfallenden (Mehr)Aufwand für Mobilität bei einem minderjährigen behinderten Kind.

Ein behindertes Kind hat einen zusätzlichen Bedarf an Fahrten zu therapeutischen Maßnahmen – als ein normales Kind

Denn in Abweichung vom Regelfall der üblichen Arztbesuche bei Erkrankung eines gesunden Kindes, besteht hier ein zusätzlicher, neben den übliche Behandlung von Kinderkrankheiten oder Erkältungen tretender Bedarf für Fahrten zu therapeutischen Maßnahmen, wobei wegen der behinderungsbedingten Angst- und Panikzustände der Klägerin jeweils die Mutter als enge Bezugsperson die Klägerin begleiten muss.

Fazit

Das Jobcenter musste den Mehrbedarf für Fahrkosten zur medizinisch notwendigen Reittherapie bewilligen.

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock

Solche Entscheidunge n berühren mich immer wieder, ich mag sie einfach.

Wissenswertes für Bürgergeld- Bezieher aber auch für Jobcentermitarbeiter

Mehrbedarf vorrangig durch alle verfügbaren Mittel zu decken

Zu berücksichtigen sind insbesondere gewährte Leistungen anderer Leistungsträger als der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende (z.B. Unterhaltsvorschuss, Leistungen der Kranken und Pflegekassen), Zuwendungen Dritter (z.B. von Familienangehörigen) können in Form von Sach-, Geld- oder Dienstleistungen gewährt werden. Auf die rechtliche Einordnung als Einnahmen kommt es insoweit nicht an.

Einnahmen für die Deckung der in § 21 Abs. 6 SGB II vorgesehenen Sonderbedarfe können nur berücksichtigt werden,wenn eindeutig feststeht, dass und in welchem Umfang Geldleistungen und sonstige Zuwendungen Dritter tatsächlich zugeflossen sind.

Der Zufluss dieser Leistungen muss konkret nachgewiesen sein und darf nicht lediglich unterstellt oder vermutet werden. Es kommt allein auf den tatsächlichen Zufluss bereiter Mittel, also von Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, an (Behrend in jurisPK-SGB II, Stand: 02.07.2020, § 21 Rn. 96).

Tipp

BSG, Urteil v. 26.01.2022 – B 4 AS 81/20 R –

Regelmäßig anfallende Fahrkosten für Arztbesuche können einen laufenden Bedarf gemäß § 21 Abs 6 SGB 2 darstellen.

Orientierungshilfe Detlef Brock

1. Fahrten zur Wahrnehmung von Arztterminen sind dem Bedarf Verkehr zuzurechnen.

Es konnte offenbleiben, ob zusätzlich auch die im Regelbedarf berücksichtigten Aufwendungen für Gesundheitspflege in die Beurteilung der Erheblichkeit einzubeziehen waren.

2. Regelmäßig anfallende Fahrkosten für Arztbesuche können im Einzelfall einen laufenden Bedarf gemäß § 21 Abs 6 SGB 2 darstellen, wenn sie den Regelbedarfsanteil für Verkehr erheblich übersteigen und vom Antragsteller nachgewiesen werden,