Das Jobcenter will die Tochter einer alleinerziehenden Mutter nicht auf eine Vereinsfahrt ihres Fußballclubs mitfahren lassen. Rechtswidrig sagt das Sozialgericht Berlin, denn die Regelung des § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II a. F. ist nicht abschließend, so jedoch das Jobcenter!
Die Kosten der Vereinsfahrt sind bei einer Ermessensreduzierung auf Null zu übernehmen. Dazu gehören auch Übernachtungs- und Verpflegungskosten.
Vorgeschichte
Die Klägerin begehrte die Erstattung von Kosten für die Teilnahme an einer Vereinsfahrt. Die im Februar 2008 geborene Klägerin lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und bezieht –aufstockend zu einer Erwerbsminderungsrente der Mutter und dem für die Klägerin gezahlten Kindergeld – vom Jobcenter Leistungen nach dem SGB II (Bürgergeld).
Die Mutter der Klägerin beantragte beim Jobcenter die Bewilligung von 70,00 EUR für die Teilnahme der Klägerin an einer Vereinsfahrt des Fußballvereins in ein Trainingscamp. Diese Kosten entstanden den Teilnehmerinnen nach Abzug von Ermäßigungsleistungen des Vereins.
Das Jobcenter lehnte den Antrag mit der Begründung ab, es handele sich nicht um eine Leistung nach dem SGB II. Die Klägerin nahm an der Vereinsfahrt teil und die Kosten wurden von ihrer Mutter bezahlt.
Klägerin wandte sich mit einer Klage an das Sozialgericht Berlin
Ihre Mutter kann aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nicht am Erwerbsleben teilhaben und ist daher auf Bürgergeld angewiesen. Aus dem Regelsatz bestreitet die Mutter bereits die Kosten für den Klavierunterricht und den Schachförderkurs der Klägerin.
Die Mutter hat im Parallelverfahren angegeben, stets in die Ausbildung ihrer Kinder investiert zu haben und daher verschuldet zu sein.
Das Jobcenter vertrat folgende Meinung
Die Regelung in § 28 Abs. 7 SGB II sei abschließend.
Das Jobcenter ist der Meinung, dass § 28 Abs. 7 S. 2 SGB II keine weiteren Leistungen ermögliche, da die Teilnahme an der Vereinsfahrt nicht die vom Gesetz erfasste Aktivität darstelle. Ein Zusammenhang mit dem wöchentlichen Fußballtraining, wie er bei der Beschaffung von Trainingsausrüstung bestehe, fehle bei der Teilnahme an einer Trainingsfahrt.
Das Sozialgericht Berlin urteilte am 21.08.2020 – S 179 AS 7523/19 – (nicht veröffentlicht) – wie folgt:
Die Klägerin hat einen Anspruch gegen das Jobcenter auf Erbringung weiterer Bildungs- und Teilhabeleistungen nach dem SGB II zur Finanzierung der Vereinsfahrt.
Der geltend gemachte Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 28 Abs. 7 Sätze 1 und 2 SGB II (in der bis 31. Juli 2019 geltenden Fassung).
Die Regelung in § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II erfasst auch weitere Kosten. Ausdrücklich können danach Aufwendungen übernommen werden, die in Zusammenhang mit der Teilnahme an den in Satz 1 genannten Bildungs- und Teilhabeangeboten bestehen.
Für das Gericht war unverständlich die Auffassung des Jobcenters, die Teilnahme der Klägerin an der Vereinsfahrt stehe nicht in Zusammenhang mit der Mitgliedschaft im Fußballverein.
1. Denn die Durchführung des Trainingscamps dient unmittelbar der Vertiefung des sportlich Erlernten und des kollegialen Zusammenhaltes innerhalb der Mannschaft.
2. Durch ein intensives 3-Tage-Trainung sollten die sportlichen Leistungen erhöht und die Abstimmung der Spielerinnen verbessert werden. Die Vereinsfahrt setzte die Teilhabe der Klägerin lediglich an einem Wochenende sowie an einem anderen Ort fort.
Nach Überzeugung des Gerichts ist der Klägerin und ihrer Mutter im vorliegenden Einzelfall eine Finanzierung der Teilnahmekosten aus dem Regelsatz nicht möglich.
Dafür sind die Kosten zum einen zu hoch, zum anderen bestreitet die Mutter der Klägerin bereits hohe Kosten für die Bildung der Klägerin in Musik und Schach.
Die Gewährung von Leistungen nach § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II steht im Ermessen des Jobcenters. Im vorliegenden Fall ist das Ermessen jedoch auf Null reduziert.
Denn:
1. Die Verweigerung der Kostenübernahme für die Teilnahme an einer solchen Vereinsfahrt würde die Klägerin als Leistungsbezieherin nach dem SGB II benachteiligen und stigmatisieren – gerade um dies zu verhindern wurde § 28 Abs. 7 S. 2 SGB II geschaffen.
Die Nichtteilnahme würde die Klägerin weniger in ihre Mannschaft integrieren, würde ihre Einsatzchancen schmälern und das Kind nur wegen der Einkommensverhältnisse ihrer Mutter ausgrenzen.
Des weiteren ist der Zusammenhang zwischen den Leistungen nach § 28 Abs. 7 Satz 1 SGB II (Teilnahme am Vereinstraining) und der Trainingsfahrt besonders eng.
2. Etwas anderes könnte gelten, wenn die Mannschaft der Klägerin einen Theater- oder Konzertbesuch allein zur Stärkung des Zusammenhalts planen würde.
3. Ein Trainingscamp setzt aber die sportliche Aufgabe des wöchentlichen Trainings und damit die vom SGB II zu ermöglichende Teilhabe von Kindern unmittelbar fort.
Die Gericht nimmt zur Begründung der Ermessensreduzierung auch Bezug auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juli 2014 (Rn 132 und 148):
Bildungs- und Teilhabeangebote müssen für die Bedürftigen allerdings auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein. Eine Auslegung als Anspruch für Kosten jeder Vereinsfahrt kommt zwar nicht in Betracht, im vorliegenden Fall ergibt sich aber eine Ermessensreduzierung, die jede andere Entscheidung als die Übernahme der Teilnahmekosten ausschließt.
Da die Mutter der Klägerin die Kosten verauslagt hat, sind diese zu erstatten, so die 179. Kammer des SG Berlin.
Zusammenfassend kann man folgendes sagen
1. Anspruch gegen das JobCenter auf Erbringung weiterer Bildungs- und Teilhabeleistungen nach dem SGB II zur Finanzierung der Vereinsfahrt.
2. Die Regelung in § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II erfasst auch weitere Kosten.
3. Eine Auslegung als Anspruch für Kosten jeder Vereinsfahrt kommt zwar nicht in Betracht, im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch eine Ermessensreduzierung, die jede andere Entscheidung als die Übernahme der Teilnahmekosten ausschließt.
Leitsatz Detlef Brock Redakteur von gegen-hartz.de
Die für eine mehrtägige Trainingsfahrt des Fußballvereins entstehenden Übernachtungs- und Verpflegungskosten stellen neben den monatlichen Vereinsbeiträgen weitere nach § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II (in der bis zum 31. Juli 2019 geltenden Fassung vom 07. Mai 2013) berücksichtigungsfähige tatsächliche Aufwendungen dar, welche vom Jobcenter zu übernehmen sind.
Anmerkung und Hinweis
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin ist zu begrüßen, denn es stellt klar, dass die Kosten für die Vereinsfahrt bei Bürgergeld Empfängern nicht aus dem Regelsatz zu bestreiten sind.
So aber SG Berlin, Beschluss vom 26.04.2013 – S 197 AS 10018/13 ER rechtskräftig –
Wonach:
Die Kosten für eine Vereinsfahrt als “Teilnahme an Freizeiten” im Sinne des § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB 2 einen vom Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB 2 umfassten Bedarf dar,stellen, wodurch der Anwendungsbereich des § 24 Abs. 1 S. 1 SGB 2 eröffnet ist, was heißt, es gibt nur ein – Darlehen.
Des weiteren kann ich mitteilen, dass das Jobcenter in Berufung ging und weiter die Meinung vertrat, dass es keine Anspruchsgrundlage im SGB II geben würde, um diese Kosten zu erstatten.
Die 2. Instanz, dass LSG Berlin- Brandenburg schloss sich – nicht – der Meinung des Jobcenters an und urteilte wie folgt:
Leitsatz Redakteur Detlef Brock
Die für eine mehrtägige Trainingsfahrt des Fußballvereins entstehenden Übernachtungs- und Verpflegungskosten stellen neben den monatlichen Vereinsbeiträgen weitere nach § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II (in der bis zum 31. Juli 2019 geltenden Fassung vom 07. Mai 2013) berücksichtigungsfähige tatsächliche Aufwendungen dar.
Was heißt das jetzt für Bürgergeldempfänger?
Aus der Praxis ist uns bekannt, dass Jobcenter gerne die Kosten für Vereinsfahrten bzw. Trainingscamp abgelehnt haben bzw. ein Darlehen angeboten haben.
Auch wenn der Einzelfall ausschlaggebend ist, sollten dies Ablehnungen angegriffen werden durch Widerspruch oder Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X. Denn Bildungs- und Teilhabeangebote müssen für die Bedürftigen auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein.
Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung eines eigenständigen Anspruchs auf BUT-Leistungen und dem angestrebten Ziel der Integration aller Kinder in Gemeinschaftsveranstaltungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Ausschluss der Kostenübernahme für Aufwendungen für eine Trainingsfahrt gewollt war.
Vielmehr wollte der Gesetzgeber umfassend die materielle Basis für Chancengerechtigkeit sicherstellen (vgl. zu Schulausflügen: BSG, Urteil vom 08. März 2023 – B 7 AS 9/22 R – ).
Das Urteil gilt nicht nur für Trainingsfahrten oder Vereinsfahrten bzw. Trainingscamp von Fußballverein, sondern für den Breitensport ( Fußball, Handball, Basketball, Schwimmen, Radsport usw.)!
Hinweis
Aufgrund des BSG, Urteil vom 08. März 2023 – B 7 AS 9/22 R – dürfte es zum jetzigen Zeitpunkt viel einfacher sein, dass Jobcenter zur Kostenübernahme zu verpflichten.
Auch die nunmehr – offene Formulierung in § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 1 gibt Hoffnung, so das jeder Betroffene hier unbedingt einen Antrag stellen sollte, wenn es um Vereinsfahrten für Clubs, Trainingscamps usw. geht!!!
Wichtig: Beim Antrag auf Übernahme der Kosten für die Vereinsfahrt sollte auch nachgewiesen werden, wenn zum Beispiel das Kind noch andere Vereine besucht, ein Musikinstrument erlernt oder ähnliches, denn all das müssen ja die Eltern aus ihrem Regelsatz zahlen.
Wichtig kann auch sein, wenn die Mutter alleinerziehend ist und vielleicht nur aufstockende Leistungen bezieht oder das Elternteil eine niedrige Rente bezieht.
Wenn das gegeben ist, ist das Ermessen des Jobcenters reduziert, d. h. , dem Antrag müssen sie statt geben!
Detlef Brock ist Redakteur bei Gegen-Hartz.de und beim Sozialverein Tacheles e.V. Bekannt ist er aus dem Sozialticker und später aus dem Forum von Tacheles unter dem Namen “Willi2”. Er erstellt einmal wöchentlich den Rechtsticker bei Tacheles. Sein Wissen zum Sozialrecht hat er sich autodidaktisch seit nunmehr 17 Jahren angeeignet.