Bürgergeld: Aufrechnung eines Darlehens für Genossenschaftsanteile verfassungswidrig

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Aufrechnung eines Darlehens für Genossenschaftsanteile war verfassungsrechtlich zu beanstanden

Eine Aufrechnung eines Darlehens ist dann verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn sehr hohe Rückzahlungspflichten aus Darlehen und/oder zeitlich unmittelbar nacheinander folgende Aufrechnungen länger als drei Jahre in Folge jeweils monatlich i.H.v. 10 ( noch zu Hartz IV – Jetzt sind es 5% ) Prozent mit dem Regelbedarf aufgerechnet werden.

Es besteht eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei Aufrechnung des Darlehens für die Zahlung von Genossenschaftsanteilen mit einer Dauer von 6,33 Jahren.

Das Gericht sagt: Die Aufrechnung von Genossenschaftsanteilen war auf 3 Jahre zu begrenzen.

So entschieden vom SG Hamburg, Urt. v. 02.12.2022 – S 39 AS 11/20 – rechtskräftig – Berufung beim LSG Hamburg wurde vom Jobcenter zurück genommen – Az. L 4 AS 77/23 D.

Begründung: Hinreichende Bestimmtheit des Aufrechnungsbescheides war nicht gegeben

Die Aufrechnungserklärung war schon inhaltlich nicht hinreichend bestimmt, § 33 Abs. 1 SGB X.

Es muss im Aufrechnungsbescheid klar und unzweideutig zu erkennen sein, mit welchem Darlehensrückzahlungsanspruch aufgerechnet wird und ab wann sowie in welcher Höhe die Aufrechnung greift.

Es muss hinreichend deutlich werden, dass die Aufrechnung nicht allein auf die im Zeitpunkt ihrer Erklärung bereits bewilligten laufenden Leistungen Bezug nimmt und so auf den laufenden Bewilligungszeitraum begrenzt ist, sondern eine hiervon abgelöste Aufrechnung im Sinne eines Grundlagenverwaltungsakts über den laufenden Bewilligungszeitraum hinaus regelt (BSG, Urteil vom 28. November 2018 – B 14 AS 31/17 R ).

Gericht bejaht entgegen dem Jobcenter eine Grundrechtsverletzung Aufrechnungslagen sind unter Kontrolle zu halten aus Verfassungsgründen.

Die Aufrechnung des Darlehens für die Zahlung von Genossenschaftsanteilen mit einer Dauer von 6,33 Jahren führt bei Leistungsbezieher zu einer Grundrechtsverletzung des Leistungsbeziehers und war deshalb auf 3 Jahre zu begrenzen.

Gerichte sind nicht an die Fachanweisungen der Jobcenter gebunden
Das Gericht war nicht an die Regelungen der Fachanweisung der Freien und Hansestadt Hamburg gebunden, gerade wenn diese eine Aufrechnung von Darlehen für Genossenschaftsanteile von bis zu fünf bzw. zehn Jahren vorsieht.

Fachanweisung der Freien und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit stand nicht im Einklang mit dem verfassungskonform auszulegenden einfachen Bundesrecht ( LSG Hamburg, Beschluss vom 27. Mai 2016 – L 4 AS 137/16 B ER – )

Die Verwaltung ist dazu verpflichtet, die Weisungen – sofern diese aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG gegenüber Leistungsempfängern angewendet werden – wegen der insoweit bestehenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG) anzupassen.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock:

Als mich damals der Kläger mitteilte, dass die Berufung beim LSG Hamburg vom Jobcenter zurück genommen wurde, viel mir ein Stern vom Herzen. Der Kläger hatte eine schwere Zeit durch gemacht, so was hinterlässt Spuren!!!

Denn jahrelang wurde er Leistungsempfänger durch die Falsch – Ansicht des Jobcenters unter sein Existenzminimum gedrückt – eindeutig rechtswidrig sagt der Sozialrechtsexperte Detlef Brock
Das Jobcenter war in diesem Verfahren und 3 weiteren Klagen in die Berufung gegangen vor dem LSG Hamburg, am 16.11.2023 nahm das JobCenter die Klagen zurück auf Anraten des LSG Hamburg.

Folgendes teilte mir der Kläger damals mit:

Ich darf Ihnen heute über den endgültigen Ausgang der Verfahren um die überlange, nicht verfassungskonforme Aufrechnung von Darlehen für Genossenschaftsanteile berichten. Das JC hat hiergegen Beschwerde eingelegt.

Das Berufungsverfahren beim LSG Hamburg fand am 16.11.2023 statt. Der Senat war hier gegenüber dem JC sehr deutlich, woraufhin die Gegenseite die Berufung zurückgenommen hat. Damit sind die Urteile des SG vom 02.12.2022 rechtskräftig geworden. Das Geld ist gestern meinem Konto gutgeschrieben worden, mit einem relativ kleinen, offenen Restbetrag. Also „Ende gut, fast alles gut”, auch wenn das ganze so lange Jahre gedauert hat.

Hier noch ein Auszug aus dem Sitzungsprotokoll:
„Der Senat weist darauf hin, dass der Einschätzung des Sozialgerichts beigetreten wird. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind Aufrechnungslagen unter Kontrolle zu halten aus Verfassungsgründen.
Dabei stehen grundsätzlich verschiedene Lösungsmöglichkeiten für den Beklagten zur Verfügung. Hier in der Rückschau dürfte lediglich die Rückzahlung der einbehaltenen Beträge sachgerecht sein können. […] Der Senat rät daher dringend zur Rücknahme der Berufung, zumal sich die Rechtslage nach Einführung des Bürgergeldes geändert hat.”
Az.: L 4 AS 75/23 D, S 39 AS 2085/19, L 4 AS 76/23 D, S 39 AS 3888/19, L 4 AS 77/23 D, S 39 AS 11/20, L 4 AS 78/23 D, S 39 AS 1716/21

Hinweis vom Sozialrechtsexperten

Die Höhe der Tilgung beträgt 5 Prozent des maßgebenden Regelbedarfes (§ 42a Absatz 2 Satz 1).

Eine abweichende Aufrechnung ist unzulässig. Auch bei mehreren Darlehen ist die Tilgung durch Aufrechnung auf insgesamt 5 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs begrenzt.

Soweit mehrere Rückzahlungsansprüche aus Darlehen mit Erstattungs- oder Ersatzansprüchen zusammentreffen (vergleiche § 43 Absatz 3), können die Rückzahlungsansprüche aus Darlehen nach § 42a Absatz 2 ebenfalls nur bis zur Höhe von insgesamt 5 Prozent des Regelbedarfs aufgerechnet werden.

Rechtstipp auch ergangen zu Hartz IV

SG Köln, Urt. v. 07.02.2023 – S 45 AS 3461/20 WA –

Verfassungsrechtliche Beanstandung des Gerichts bei zu langer Aufrechnung von Darlehen
Eine Aufrechnung eines Darlehens ist dann verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn sehr hohe Rückzahlungspflichten aus Darlehen und/oder zeitlich unmittelbar nacheinander folgende Aufrechnungen länger als drei Jahre in Folge jeweils monatlich i.H.v. 10 Prozent mit dem Regelbedarf aufgerechnet werden.

1. Ca 4 jährige Tilgung eines Mietkautionsdarlehen ist für den Leistungsempfänger unzumutbar, denn bei dieser Dauer der Rückzahlungsverpflichtung liegt eine nicht mehr nur vorübergehende Leistungskürzung vor.

2. Bei einem Zeitraum ab mehr als 3 Jahren ist entsprechend der Regelung des ( § 43 Abs. 4 S. 2 SGB II ) eine Kappungsgrenze entsprechend verfassungskonformer Auslegung zu setzen, 3 Jahre max. sind verfassungsgemäß ( vgl. dazu BSG, Urt. v. 28.11.2018 – B 14 AS 31/17 R ).

3. Das Jobcenter kann sich den noch nicht getilgten Beitrag des Mietkautionsdarlehens von der Hilfebedürftigen abtreten lassen.

Was gilt hier für Betroffenen?

Sollte eine Mietkaution bzw. Genossenschaftsanteile vom Jobcenter länger wie 3 Jahre aufgerechnet werden, ist Hilfe beim Rechtsanwalt zu suchen, denn das Jobcenter muss sich an die Regelung des § 43 Abs. 4 SGB II halten!

Dazu ein Rechtstipp: SG Potsdam, Urt. v. 14.06.2017 – S 49 AS 305/16 –

Durch die Aufrechnung nach § 42a SGB II ist das verfassungsrechtliche Existenzminimum nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen, so dass auch nach Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die Aufrechnung der in dem vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 09. Februar 2010 (Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) betonte Grundsatz zu beachten ist, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein muss (Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 02. Januar 2014 – L 9 AS 1089/13 B –).

Daher ist im Einzelfall sicherzustellen, dass durch eine Aufrechnung nicht über einen längeren Zeitraum eine verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Bedarfsunterdeckung erfolgt, etwa weil außer Grundsicherungsleistungen kein weiteres einsetzbares Einkommen vorhanden ist. Dies gilt umso mehr, als es sich bei einem Mietkautionsdarlehen nicht um einen aus der Regelleistung anzusparenden Bedarf handelt.

Des weiten möchte ich darauf hinweisen, dass nur die Person, die im Mietvertrag steht, meistens die Eltern, 1. eine Mietkaution beantragen können und 2. im Darlehensvertrag nur die Personen stehen dürfen, welche auch im Mietvertrag stehen.

Auf jeden Fall dürfen Kinder nicht in Mit – Haftung gezogen werden, denn

Auf die Gewährung von Leistungen für eine Mietkaution findet das sog Kopfteilprinzip keine Anwendung. Leistungsberechtigt ist grundsätzlich nur derjenige, der nach dem Mietvertrag Schuldner der Mietsicherheit ist. Das Gleiche gilt für den Darlehensvertrag. Mehr dazu hier: https://www.gegen-hartz.de/urteile/buergergeld-bei-mietkaution-stromschulden-und-mietschulden-keine-mithaftung-der-kinder

Schlusswort

Solche Urteile sind zu begrüßen, leider zu selten,doch für die Betroffenen war das schrecklich, denn sie mussten an lebensnotwendigen Dingen sparen, um die Raten aufzubringen.

Ich kann aber auch sagen, dass die Jobcenter aus ihren Fehlern gelernt haben und in der Regel die Aufrechnung nicht länger wie 3 Jahre betrifft.