Statt Hartz IV: Besserer Zugang zur vollen Erwerbsminderungsrente

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Bundessozialgericht: Auch „gewöhnliche” Einschränkungen können zu Rentenanspruch führen

Chronisch Erkrankte und Behinderte haben nunmehr einen leichteren Zugang zur vollen Erwerbsminderungsrente. Zu einem Anspruch können auch mehrere „gewöhnliche” Leistungseinschränkungen führen, urteilte das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel (Az.: B 13 R 7/18 R).

Arbeitsmarkt faktisch verschlossen

Hintergrund ist die ständige Rechtsprechung des BSG, wonach ein Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente auch dann bestehen kann, wenn zwar noch ein Restleistungsvermögen besteht, der Arbeitsmarkt aber faktisch „verschlossen” ist, weil es passende Tätigkeiten kaum gibt. In solchen Fällen kann die Rentenversicherung aber eine noch übliche Verweistätigkeit benennen, die die betreffende Person noch ausüben könnte.

Voraussetzung hierfür war bislang eine „schwere spezifische Leistungsbehinderung” oder mindestens zwei in der Summe gleichwertige „ungewöhnliche Einschränkungen”, etwa an den Händen oder eine erhebliche Sehstörung.

Geklagt hatte ein heute 55-jähriger Mann aus Berlin, der nach einem Herzinfarkt zahlreiche Krankheiten und Einschränkungen hat. So kann er kaum stehen, sich nur schwer konzentrieren und kann, unter anderem wegen Atembeschwerden, keine körperlich anstrengenden Arbeiten ausüben.

In der Vorinstanz hatte das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg in Potsdam die Auffassung vertreten, dass es generell kaum noch Stellen für „Einfacharbeit” gebe. Ohne genaue Prüfung sprach es dem Kläger daher die Erwerbsminderungsrente zu.

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Das BSG zog nun verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen heran, wonach es bundesweit gut fünf Millionen Stellen für „Helfer- und Anlerntätigkeit” gebe. Davon seien zwar 80 Prozent im Stehen auszuüben, es blieben aber immer noch eine Million Stellen im Sitzen. Daher entschied das BSG, dass die Rentenversicherung Arbeitslose mit körperlichen Einschränkungen grundsätzlich weiterhin auf einfache Tätigkeiten verweisen kann.

Volle Erwerbsminderungsrente bei Einschränkungen

Allerdings senkten die Kasseler Richter die Hürde für einen „verschlossenen” Arbeitsmarkt. Danach kann ein Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente auch dann bestehen, wenn „mehrere, auf den ersten Blick gewöhnliche Leistungseinschränkungen vorliegen”. Dabei komme es nicht an die Zahl der Einschränkungen an. Voraussetzung sei vielmehr dass sie „sich aufgrund ihres Zusammentreffens insgesamt ebenso ungewöhnlich auswirken”.

Im Streitfall soll das LSG Potsdam diese Voraussetzungen nun prüfen. Kommt es, wie zu erwarten, zu einem für den Kläger „verschlossenen” Arbeitsmarkt, muss es weiter klären, ob es von der Rentenversicherung benannte Vergleichstätigkeiten, etwa die eines „Pförtners an der Nebenpforte” tatsächlich noch in relevanter Zahl gibt.

Die Bewertung körperlicher Einschränkungen erfolgt nach der bisherigen BSG-Rechtsprechung anhand verschiedener einfacher „Verrichtungen” wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Kleben und Verpacken. In ihrem neuen Urteil passten die Kasseler Richter diesen Katalog der heutigen Arbeitswelt an und ergänzten „Verrichtungen” wie Messen, Prüfen und Überwachen. mwo/fle