Arme Bürgergeld-Bezieher werden schnell zu Kriminellen gemacht

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Niels Seibert besuchte über hundert Gerichtsverfahren am Tempelhofer Damm, einer Außenstelle des Berliner Amtsgerichts und fasste im Neuen Deutschland zusammen: “Nicht die Straftaten erschrecken, sondern das Justizsystem einer Gesellschaft, die keine angemessenen Antworten auf die existierende Armut hat.”

Vier Monate Haft für “Mundraub”

So wurde eine Mutter von vier Kindern, darunter einem Baby, zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, weil sie im Netto Supermarkt Lebensmittel für 47,57 Euro mitgehen lassen wollte. Ein geringfügig Beschäftigter wurde wegen Fahrens ohne Fahrschein zu vier Monaten auf Bewährung verknackt.

Der versuchte Diebstahl eines Shampoos im Wert von 4,40 Euro führte zu einer Haftstrafe auf Bewährung von zwei Monaten.

Bagatellvergehen aus Armut

Dabei seien es fast immer die Bagatelldelikte “Diebstahl geringwertiger Sachen” oder “Fahren ohne Fahrschein”. Beide Handlungen haben gemeinsam, dass Menschen sie begehen, weil sie kein Geld haben.

Harte Strafen

Seibert hält fest: “93 Prozent der öffentlichen Verhandlungen endeten mit Verurteilungen zu Geld- und Haftstrafen.” Nicht einmal sei es zu einer Einstellung gegen Sozialstunden oder einer Verwarnung mit Strafvorbehalt gekommen, obwohl dies rechtlich in vielen Fällen möglich ist.

Immer höhere Strafen

Bei Wiederholung würden Strafen immer weiter erhöht, und dies auch bei Angeklagten, die eine positive Lebensveränderung nachwiesen – eine überwundene Suchterkrankung, einen neuen Arbeitsplatz oder einen Milieuwechsel.

Dies alles, so Seibert “ohne auch nur zu bedenken, dass eine erneute harte Bestrafung zu einem Rückfall führen und das neue Leben ruinieren könnte.”

Vor Gericht stehen die Ärmsten der Armen

Laut Seibert seien fast alle, die vor diesem Gericht stünden, von staatlichen Leistungen abhängig. Er zitiert Betroffene, dass sie “Hunger, aber kein Geld” hätten.

Psychoziale Probleme

Viele der Angeklagten, sind, laut Seibert, gesundheitlich und psychisch belastet. Manche hätten eine Biografie mit Obdachlosigkeit oder Suchterkrankungen. Andere hätten Schicksalsfälle wie Unfälle oder Todesfälle nicht verarbeitet.

Seibert schließt: “Es sind Menschen darunter, die sich in einem Teufelskreis befinden und es aus eigener Kraft nicht schaffen, sich aus dem Elend zu erlösen.”

Soziale Probleme statt Strafrecht

Er erläutert: “Diese Menschen brauchen etwas anderes als ein Gerichtsverfahren, in dem sie – der persönlichen Lebenssituation inadäquat – nach juristischen Vorgaben des Strafgesetzbuchs beurteilt werden. Soziale und gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht strafrechtlich lösen.”

Kein Rechtsbeistand

Nur circa jeder zehnte der Angeklagten hätte, so Seibert, eine rechtsanwaltliche Vertretung. Nur wenige würden sich ihren Anwalt selbst suchen, anderen werde dieser vom Gericht beigeordnet. Diese würden ihre Aufgabe als Verteidiger nicht ernst nehmen.

Unverständliches Verfahren

Viele Angeklagte verstünden, so Seibert, das Juristendeutsch nicht. Oft wüssten die Beschuldigten nicht einmal, welcher Prozessbeteiligte welche Aufgabe hätte und würden den Verlauf des Prozesses nicht verstehen.

Manche Angeklagte wüssten nicht, was der Unterschied zwischen Amtsanwalt und Richter sei, zwischen Plädoyer und Urteil.

Missverständnisse bei Übersetzungen

Angeklagte mit mangelnden Deutschkenntnissen verständen bisweilen in Ihrem eigenen Verfahren nicht, was gesagt würde. Viele Übersetzungsfehler würden laut Seibert vermutlich nicht aufgedeckt.

Erschwerter Rechtsweg

Zudem gebe es einen Dolmetscher sowieso nur während des Verfahrens. Angeklagte, die eine Übersetzung benötigten, würde so eine Berufung schwierig gemacht, da diese in deutscher Sprache erfolgen muss.

Seibert erwähnt Beispiele, wie ein Richterin Angeklagte rassistisch beleidigte: “Haben Sie in Ihrer Heimat auch so viel gestohlen?”, oder “Wenn Sie Hunger haben, warum gehen Sie nicht zurück in Ihre Heimat?” Für den Mundraub der Hungrigen verurteilte die hetzende Richterin die Beschuldigte dann zu sechs Wochen ohne Bewährung.

Kein Gutachten von Fachleuten

Angeklagte waren offensichtlich unzurechnungsfähig waren, erschienen alkoholisiert vor Gericht oder hatten betrunken geklaut. Die Vermutung drängt sich auf, dass sie erstens an Suchterkrankungen leiden und / oder psychisch beeinträchtigt sind. Trotzdem kam es nicht einmal zur Prüfung nach Paragraf 20 StGB durch ein Gutachten, so Seibert.