Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat klargestellt, dass Jobcenter bei der Prüfung eines Bürgergeld-Antrags keine Nachweise verlangen dürfen, die für die Bewilligung der Regelleistungen nicht erforderlich sind. Im konkreten Fall hob das Gericht die Ablehnung eines Antrags auf Bürgergeld auf und verpflichtete das Jobcenter zur rückwirkenden Gewährung der Regelleistungen.
Die Behörde hatte ihre Ablehnung auf angeblich fehlende Unterlagen der geschiedenen Ehefrau des Antragstellers gestützt – ein Vorgehen, das das LSG als unangemessen einstufte (Az.: L 21 AS 486/24 B ER und L 21 AS 487/24 B).
Der Fall: Schwerbehinderter Antragsteller in Bedarfsgemeinschaft
Der Kläger ist schwerbehindert (GdB 80, Merkzeichen G und B) und beantragte Bürgergeld zur Sicherung seines Lebensunterhalts. Er lebt mit seiner ebenfalls schwerbehinderten, geschiedenen Ehefrau (GdB 100, Merkzeichen RF) in einer Bedarfsgemeinschaft; beide Personen stehen unter gesetzlicher Betreuung. Zuvor hatte der Mann in einer anderen Stadt Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII bezogen. Nach dem Umzug stellte er einen vorläufigen Antrag auf Bürgergeld.
Jobcenter verlangt weitreichende Nachweise
Im Rahmen der Antragstellung forderte das Jobcenter eine Vielzahl von Unterlagen sowohl vom Kläger als auch von dessen Ex-Frau an. Neben Ausweisdokumenten, Sozialversicherungs- und Krankenkassennachweisen betraf dies auch Bescheide früherer Leistungen, Nachweise zu Kindergeld, Wohngeld, Schwerbehinderteneigenschaft, Kfz-Kosten sowie umfangreiche Kontoauszüge über mehrere Monate – ausdrücklich auch Konten der geschiedenen Ehefrau, einschließlich aufgegebener Konten und Zahlungsdienste.
Die Behörde argumentierte, nur so lasse sich die Hilfebedürftigkeit des Klägers prüfen, da beide in einer Bedarfsgemeinschaft lebten und daher Einkommen und Vermögen der Ex-Frau relevante Parameter seien.
Jobcenter darf keine Vermieterbescheinigung verlangen
Im Zuge der Forderungen wurde auch eine Vermieterbescheinigung thematisiert. Das LSG stellte klar, dass eine derartige Bescheinigung für die Bewilligung von Regelleistungen nicht erforderlich ist.
Für die Feststellung des Anspruchs auf den Regelbedarf genügt es, die eigenen, leistungsrelevanten Umstände des Antragstellers zu ermitteln. Mietrechtliche Detailbestätigungen durch den Vermieter sind dafür kein notwendiger Bestandteil und überschreiten die Grenze zulässiger Mitwirkungsanforderungen.
Ablehnung wegen angeblich unzureichender Mitwirkung
Weil die angeforderten Unterlagen der Ex-Frau teilweise nicht vorgelegt wurden, lehnte das Jobcenter den Antrag unter Hinweis auf § 66 SGB I ab. Danach dürfen Leistungen versagt oder entzogen werden, wenn eine notwendige Mitwirkung fehlt und die Aufklärung des Sachverhalts dadurch wesentlich erschwert wird.
Der Kläger legte Widerspruch ein und beantragte beim Sozialgericht Gelsenkirchen einstweiligen Rechtsschutz. Das Sozialgericht (S 33 AS 310/24 ER) folgte jedoch der Linie des Jobcenters und wies den Eilantrag zurück. Zur Begründung hieß es, die Hilfebedürftigkeit sei mangels vollständiger Unterlagen der geschiedenen Ehefrau nicht ausreichend dargetan.
Erfolg vor dem Landessozialgericht
Das LSG Nordrhein-Westfalen gab der hiergegen gerichteten Beschwerde statt. Es stellte fest, dass die von der Behörde verlangten Nachweise der Ex-Frau für die Bewilligung der Regelleistungen des Klägers im Eilverfahren nicht entscheidungserheblich waren.
Der Kläger hatte die für seine eigene Hilfebedürftigkeit maßgeblichen Angaben fristgerecht und vollständig gemacht. Damit fehlte es an der rechtlich gebotenen Kausalität zwischen der vermeintlich fehlenden Mitwirkung und der Aufklärung eines tatsächlich leistungsrelevanten Sachverhalts.
Das Gericht hob den vorinstanzlichen Beschluss und die ablehnende Entscheidung des Jobcenters auf und verpflichtete die Behörde, die Regelleistungen rückwirkend zu zahlen.
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Bescheid prüfenMitwirkung ja – aber nur, soweit erforderlich
Die Entscheidung zeichnet die Grenzen der Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I präzise nach.
Danach müssen Leistungsberechtigte zwar bei der Aufklärung mitwirken, doch ist die Mitwirkung auf solche Tatsachen beschränkt, die für den konkreten Anspruch erheblich sind. Versagungsentscheidungen nach § 66 SGB I setzen voraus, dass ohne die Mitwirkung eine wesentliche Sachaufklärung unmöglich oder unzumutbar erschwert ist. Zudem steht die Verwaltung unter dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 SGB X) und darf Ermittlungsarbeit nicht pauschal an die Antragstellenden „auslagern“.
Gerade im Kontext der Regelleistungen nach dem SGB II kommt es primär auf die persönlichen Bedarfe und das anrechenbare Einkommen der leistungsberechtigten Person an.
Nur wo greifbare Anhaltspunkte bestehen, dass drittbezogene Informationen – etwa Einkommen einer weiteren Person – den Anspruch tatsächlich berühren, kann die Behörde entsprechende Nachweise verlangen. Bloße Mutmaßungen oder standardisierte, überbreite Anforderungskataloge genügen dafür nicht.
Bedarfsgemeinschaft und Relevanz fremder Unterlagen
Dass der Kläger und seine geschiedene Ehefrau zusammenleben, führt nicht automatisch dazu, dass sämtliche Unterlagen der Ex-Frau für jede Leistungsart zwingend vorzulegen sind. Entscheidend ist, ob die begehrten Nachweise für die konkrete Berechnung des Anspruchs des Klägers auf Regelleistungen erforderlich sind.
Das LSG verneinte dies im Eilverfahren. Es betonte, dass es keine tragfähigen Hinweise gegeben habe, die ohne die Unterlagen der Ex-Frau nicht aufklärbar gewesen wären und den Anspruch des Klägers tangiert hätten. Die pauschale Gleichsetzung von „Bedarfsgemeinschaft“ und „pflichtiger Vorlage sämtlicher Drittunterlagen“ trägt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht Rechnung.
Eilverfahren: Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
Im einstweiligen Rechtsschutz ist eine summarische Prüfung vorzunehmen. Reichen die eigenen, plausibel belegten Angaben des Antragstellers aus, um einen Anordnungsanspruch auf Regelleistungen zu begründen, darf die Behörde die Leistung nicht mit dem Hinweis auf fehlende Fremdunterlagen zurückhalten.
Angesichts der existenzsichernden Funktion des Bürgergelds fällt das Gewicht eines Anordnungsgrundes zusätzlich ins Gewicht. Die Entscheidung des LSG trägt diesem Schutzauftrag Rechnung und verhindert, dass unverhältnismäßige Mitwirkungsforderungen zu faktischen Leistungssperren führen.
Konsequenzen für Betroffene
Für Leistungsberechtigte bedeutet die Entscheidung Stärkung und Orientierung. Wer die eigenen, unmittelbar leistungsrelevanten Angaben vollständig und plausibel belegt, muss nicht befürchten, dass Regelleistungen mit Verweis auf fehlende, irrelevante Fremdunterlagen blockiert werden.
Gleichwohl bleibt es wichtig, auf Mitwirkungsaufforderungen strukturiert zu reagieren, Fristen zu wahren und begründet zu widersprechen, wenn Anforderungen offensichtlich über das Erforderliche hinausgehen.
Im Streitfall kann gerichtlicher Eilrechtsschutz eine effektive Option sein, um existenzsichernde Leistungen abzusichern.
Fazit
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat die Versagungspraxis nach § 66 SGB I spürbar eingehegt und die Verhältnismäßigkeit von Mitwirkungsanforderungen betont. Regelleistungen dürfen nicht mit pauschalen, irrelevanten Dokumentationsforderungen verknüpft werden. Die Entscheidung verpflichtet Jobcenter zu einer präzisen, am konkreten Leistungsanspruch orientierten Prüfung und stärkt den Rechtsschutz von Bürgergeld-Beziehenden – insbesondere in Konstellationen, in denen Drittunterlagen ohne erkennbaren Bezug zum individuellen Anspruch verlangt werden.