2.600 € Entschädigung für Bürgergeld-Bezieher wegen zu langem Warten – Urteil

Lesedauer 3 Minuten

Ein Bürgergeld-Bezieher erhält 2.600 Euro Entschädigung zuzüglich Prozesszinsen, weil sein sozialgerichtliches Verfahren 26 Monate unangemessen lange gedauert hat. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Az. L 38 SF 159/24 EK AS, Urteil vom 22.01.2025) stellt klar: Verfahren nach dem SGB II haben regelmäßig überdurchschnittliche Bedeutung für die Betroffenen.

Auch wenn es vordergründig „nur“ um monatliche Kürzungen ging, wie hier 119,70 Euro für zwei Monate, rechtfertigt die besondere Tragweite im Existenzsicherungsrecht einen spürbaren Ausgleich für die lange Ungewissheit.

Worum es im Kern ging

Ausgangspunkt war ein Streit um die Wirksamkeit eines Eingliederungsverwaltungsakts und darauf aufbauende Sanktionen. Das Verfahren zog sich über Jahre mit Phasen völliger Inaktivität hin. Die Betroffenen-Perspektive gab den Ausschlag: In SGB-II-Verfahren entscheidet das Ergebnis häufig über das tägliche Existenzminimum, über die Möglichkeit, Miete und Strom zu zahlen oder Mobilität aufrechtzuerhalten. Die Gerichte müssen das bei der Angemessenheit der Dauer berücksichtigen.

So wurde die Entschädigung berechnet

Die Entschädigung orientiert sich an § 198 GVG. Maßgeblich ist der Zeitraum, in dem das Gericht ohne sachlichen Grund nicht tätig war. Nach ständiger Rechtsprechung wird eine „Vorbereitungs- und Bedenkzeit“ des Gerichts pauschal berücksichtigt; häufig werden hierfür 12 Monate angesetzt.

Außerdem kann eine zügige Bearbeitung in einem anderen Abschnitt teilweise kompensierend wirken. Aus dem verbleibenden Überlänge-Zeitraum wird die Entschädigung mit dem Regelbetrag von 100 Euro je Verzögerungsmonat berechnet.

Rechenweg im Fall:

  • festgestellte Inaktivitäts- und Verzögerungsphasen → 50 volle Monate
  • abzüglich 12 Monate pauschale Bedenkzeit
  • abzüglich 12 Monate Ausgleich durch zügige Bearbeitung in einem weiteren Abschnitt
  • = 26 Monate Überlänge × 100 Euro = 2.600 Euro

Zinsen nicht vergessen: Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit

Zum Geldbetrag kommen Prozesszinsen hinzu. Üblich sind 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz ab dem Tag nach Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage. Das Gericht hat diese Zinsen zugesprochen. Für Betroffene lohnt es sich, die Zinsen ausdrücklich zu beantragen – sie sind kein Automatismus im Tenor, werden aber regelmäßig zugesprochen, wenn die Voraussetzungen vorliegen.

Warum „geringe“ Monatsbeträge kein Gegenargument sind

Immer wieder versuchen Beklagte, Entschädigungen mit dem Hinweis auf geringe Streitwerte kleinzureden. Das funktioniert in SGB-II-Sachen nur ausnahmsweise. Ausschlaggebend ist die Bedeutung des Verfahrens für die/den Betroffene\:n. Wer mit Sanktionen, Kürzungen oder streitigen Verwaltungsakten leben muss, ist in der Regel über Monate oder Jahre in einer belastenden Unsicherheit – finanziell wie psychisch. Genau diese Unsicherheit soll der Entschädigungsanspruch kompensieren.

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Verzögerungsrüge: Ohne sie geht es nicht

Wichtig ist die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG. Sie ist Voraussetzung für die spätere Entschädigungsklage.

Zeitpunkt: Rügen, sobald sich eine Verzögerung abzeichnet – aus Sicht einer vernünftigen Partei. Man muss nicht warten, bis gar nichts mehr passiert; es genügen anhaltende, unerklärte Leerlaufphasen.
Form: formlos möglich, aber schriftlich dringend zu empfehlen (Eingangsstempel!). Aktenzeichen, kurze Sachverhaltsdarstellung, Hinweis auf Inaktivität und die Bitte um verfahrensfördernde Maßnahmen.
Wartefrist: Nach der Rüge gilt in der Regel eine Wartezeit von 6 Monaten. Erst danach ist eine Entschädigungsklage zulässig.
Klagefrist: Spätestens 6 Monate nach rechtskräftigem Abschluss oder Erledigung des Ausgangsverfahrens muss die Entschädigungsklage erhoben werden.
Zuständigkeit: Bei Verzögerungen an Sozialgerichten ist das Landessozialgericht zuständig; beklagt wird das Land, dem das verzögernde Gericht angehört.

COVID-Phasen: Was angerechnet wird – und was nicht

Für den ersten bundesweiten Lockdown (Frühjahr 2020) wird regelmäßig ein Sonderzeitraum berücksichtigt, der der öffentlichen Hand nicht als Verzögerung zugerechnet wird. Spätere Pandemieauswirkungen können dem Staat aber sehr wohl zugerechnet werden, wenn die Gerichte nicht ausreichend umorganisieren (z. B. digitale Verhandlungen, schriftliche Verfahren, Terminmanagement). Im entschiedenen Fall hat das LSG spätere Monate als Inaktivität anerkannt, weil keine tragfähigen Gegenmaßnahmen erkennbar waren.

Untätigkeitsklage ist etwas anderes – und kann parallel helfen

Wichtig: Die Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) dient dazu, eine Entscheidung zu erzwingen, wenn die Behörde oder das Gericht nicht tätig wird. Die Entschädigungsklage nach § 198 GVG ist der finanzielle Ausgleich für überlange Dauer. Beides schließt sich nicht aus. Wer frühzeitig eine Untätigkeitsklage bzw. verfahrensfördernde Anträge stellt, verkürzt oft den Zeitraum der Überlänge und sichert zugleich die spätere Argumentation.

Timeline des Falls

  • 12.02.2016 – Klage beim Sozialgericht gegen Eingliederungsverwaltungsakt/Sanktion
  • 2016–2019 – Mehrere Verfahrensschritte, darunter ein unwirksamer „Scheingerichtsbescheid“; Verfahren geht zurück
  • 30.06.2020 – Verzögerungsrüge erhoben
  • 13.10.2022 – Urteil des Sozialgerichts; Zustellung am 18.10.2022
  • 16.11.2022–12/2023 – Berufungsschritte; später Rücknahme
  • 10/2024 – Entschädigungsklage beim LSG; Zinsen ab dem Tag nach Rechtshängigkeit
  • 22.01.2025 – LSG spricht 2.600 € plus Prozesszinsen zu

Diese Timeline ist ein Beispiel dafür, wie man die Überlänge sachlich dokumentiert: Lücken, in denen nichts passiert, werden sichtbar. Das erleichtert die Begründung der Entschädigung.

Typische Fehler – und wie man sie vermeidet

  • Zu späte Rüge: Wer erst rügt, wenn das Verfahren praktisch beendet ist, verschenkt Monate. Früh rügen, Aktenzeichen nennen, Eingang quittieren lassen.
  • Keine Belege: Kalendernotizen, Terminsverfügungen, Gerichtsschreiben sammeln. Dokumentation ist der Schlüssel zur Monat-für-Monat-Herleitung.
    Zinsen nicht beantragt: Im Klageantrag die Prozesszinsen ausdrücklich verlangen.
  • Falscher Beklagter: In der Entschädigungsklage gehört das Land in den Rubrum – nicht das Gericht.
  • Fristen übersehen: 6-Monats-Wartefrist nach Rüge und 6-Monats-Klagefrist nach Abschluss im Blick behalten.
  • „Geringe Beträge“-Falle: Nicht einschüchtern lassen: In SGB-II-Sachen wiegt die Bedeutung schwerer als der nominelle Monatsbetrag.

Was das Urteil für Betroffene bedeutet

Das LSG-Urteil stärkt drei Punkte:

  1. SGB-II-Sachen sind bedeutsam – finanzielle Geringfügigkeit ist kein Totschlagargument.
  2. Transparente Berechnung – 100 Euro pro Verzögerungsmonat bleiben der Regelfall, abzüglich standardisierter Bedenkzeiten und etwaiger Kompensation.
  3. Zinsen erhöhen den Ausgleich – Rechtshängigkeit im Blick behalten, um den Zinsschaden mitzunehmen.