Schwerbehinderung: Weitreichende Änderungen beim Behindertengleichstellungsgesetz geplant

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Die Bundesregierung stellt die Barrierefreiheit in Deutschland erneut auf die Agenda. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) vorgelegt, der den Anspruch formuliert, Barrieren nicht nur in staatlichen Strukturen, sondern auch im Alltag privater Angebote spürbar zu reduzieren.

Schon die Ausgangslage ist dabei nicht umstritten: Millionen Menschen stoßen in Deutschland weiterhin auf Hindernisse, die Teilhabe erschweren oder verhindern – im Gebäude, am Schalter, auf Webseiten oder bei Dienstleistungen, die für andere selbstverständlich zugänglich sind.

Neu ist, dass der Entwurf den privaten Bereich deutlich stärker in den Blick nimmt als bisher. Gleichzeitig entzündet sich bereits an den vorgesehenen Instrumenten eine rechtliche Auseinandersetzung: Wie verbindlich wird Barrierefreiheit, wenn sie bei privaten Anbietern vor allem über Einzelfalllösungen erreicht werden soll?

Wie wirksam ist ein Diskriminierungsschutz, wenn finanzielle Ansprüche gegenüber Unternehmen ausdrücklich ausgeschlossen werden? Und wie passt ein langer Zeithorizont für Bundesbauten zur öffentlichen Erwartung, dass Inklusion nicht erst in Jahrzehnten Realität werden darf?

Tabelle: Was soll geändert wird?

Vorweg: Die Änderungen beim Behindertengleichstellungsgesetz sind laut Entwurf geplant:

Geplante Änderung Was sich laut Entwurf ändern soll
Ausweitung des Blicks über den Bundesbereich hinaus Barrierefreiheit soll nicht mehr nur bei Behörden und anderen öffentlichen Stellen des Bundes im Fokus stehen, sondern ausdrücklich auch im privaten Bereich stärker berücksichtigt werden.
Schließen einer Regelungslücke im privaten Bereich Der bislang nur begrenzt geregelte private Bereich, insbesondere bei gewerblich angebotenen Gütern und Dienstleistungen, soll rechtlich stärker erfasst werden.
Besserer Zugang zu gewerblichen Gütern und Dienstleistungen Das Reformvorhaben wird mit dem Ziel begründet, den Zugang zu kommerziell angebotenen Waren und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zu verbessern.
Pflicht zur Bestandsaufnahme baulicher Barrieren bei Bundesbauten Der Bund einschließlich bundesunmittelbarer Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts soll bauliche Barrieren in öffentlich zugänglichen Gebäudeteilen seiner Bestandsbauten feststellen.
Abbau von Barrieren bei Bundesbauten mit Zeitstufen bis 2035 und 2045 Barrieren sollen unter Berücksichtigung der baulichen Gegebenheiten möglichst im Zuge investiver Baumaßnahmen bis 2035 abgebaut werden, soweit keine unangemessene wirtschaftliche Belastung entsteht; spätestens bis 2045 sollen die Barrieren abgebaut sein.
Wirtschaftliche Zumutbarkeit als Begrenzung bei Bundesbauten Der Abbau baulicher Barrieren soll unterbleiben können, wenn er eine unangemessene wirtschaftliche Belastung darstellen würde.
Einrichtung eines Bundeskompetenzzentrums für Leichte Sprache und Deutsche Gebärdensprache Bei der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit soll ein Bundeskompetenzzentrum für Leichte Sprache und Deutsche Gebärdensprache geschaffen werden.
Beratungsauftrag des neuen Kompetenzzentrums Das Kompetenzzentrum soll Bundesministerien und nachgeordnete Behörden fachlich beraten.
Stärkung der oder des Bundesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen Die Funktion und Wirksamkeit des Amtes der oder des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen soll gestärkt werden.
Neuer Ansatz für private Anbieter: „angemessene Vorkehrungen“ Private Anbieter sollen im Bedarfsfall durch individuelle, praktikable Lösungen vor Ort den Zugang zu ihren Angeboten ermöglichen; es sind keine detaillierten Barrierefreiheitsvorschriften vorgesehen.
Begrenzung der Pflichten privater Anbieter bei baulichen und produktbezogenen Änderungen Bauliche Veränderungen sowie Änderungen an Gütern und Dienstleistungen sollen bei Unternehmen als unverhältnismäßige und unbillige Belastung gelten.
Ausschluss von Schadensersatzansprüchen gegen private Unternehmen Gegenüber privaten Unternehmen soll kein Schadensersatzanspruch geltend gemacht werden können.
Begründungsrichtung: Vermeidung von Überregulierung und Zusatzpflichten Als Ziel wird genannt, starre Vorgaben zu vermeiden, die zu Überregulierung führen, und zusätzlich belastende Berichts- oder Dokumentationspflichten möglichst auszuschließen.

Was das BGG bislang regelt – und warum der private Alltag lange außen vor blieb

Das Behindertengleichstellungsgesetz ist seit mehr als zwei Jahrzehnten der rechtliche Rahmen für Barrierefreiheit auf Bundesebene. Es verpflichtet Behörden und andere öffentliche Stellen des Bundes, ihre Angebote räumlich und kommunikativ so zu gestalten, dass Menschen mit Behinderungen sie gleichberechtigt nutzen können.

In der Praxis betrifft das den Zugang zu Gebäuden und Verkehrsanlagen ebenso wie verständliche Kommunikation, digitale Angebote oder unterstützende Verfahren.

Der private Bereich blieb demgegenüber lange ein Flickenteppich aus freiwilligen Maßnahmen, branchenspezifischen Standards und einzelnen spezialgesetzlichen Vorgaben.

Genau diese Lücke nimmt der Entwurf nun ins Visier. Er folgt dabei der Diagnose, dass Barrierefreiheit im Alltag häufig dort scheitert, wo staatliche Pflichten enden: beim Einkauf, in Gastronomie und Dienstleistungen, in der Freizeit oder bei der Nutzung digitaler Angebote, die zwar privat betrieben werden, aber faktisch Teil der öffentlichen Lebenswirklichkeit sind.

Ein Zeitplan mit Verschiebungen: vom Sommer 2025 zum Wintertermin im Kabinett

Das BMAS hatte öffentlich angekündigt, das Reformvorhaben im Sommer 2025 ins Kabinett zu bringen. Tatsächlich datiert der nun veröffentlichte Referentenentwurf vom 19. November 2025.

Parallel lief eine Verbändeanhörung mit Frist bis Anfang Dezember. Nach Angaben aus dem Umfeld der Anhörung soll das Bundeskabinett Mitte Dezember über den Entwurf entscheiden. Damit wird der ursprünglich kommunizierte Fahrplan deutlich nach hinten geschoben – ein Detail, das in der Debatte über Dringlichkeit und Glaubwürdigkeit nicht nebensächlich ist.

Bundesbauten bis 2045: Fristsetzung zwischen Realismus und politischer Zumutung

Im öffentlichen Bereich setzt der Entwurf auf konkrete Fristen. Der Bund soll bauliche Barrieren in öffentlich zugänglichen Teilen seiner Bestandsbauten systematisch feststellen und abbauen. Bis 2035 sollen Barrieren „vorzugsweise anlässlich investiver Baumaßnahmen“ reduziert werden, soweit der Abbau keine unangemessene wirtschaftliche Belastung darstellt. Spätestens bis 2045 sollen die Hindernisse verschwunden sein.

Genau hier setzt ein erheblicher Teil der Kritik an. Denn eine Frist bis 2045 wirkt für Betroffene wie ein Versprechen auf später – sehr viel später. Barrierefreiheit ist keine Frage des Komforts, sondern des gleichberechtigten Zugangs zum Staat. Wer heute nicht in ein Bundesgebäude gelangt oder dort wesentliche Angebote nicht nutzen kann, dem fehlt nicht bloß Bequemlichkeit, sondern Teilhabe.

Der Entwurf versucht zwar, die praktische Bauwirklichkeit abzubilden, indem er Umbauten an Modernisierungen koppelt. Politisch lässt sich aber schwer vermitteln, warum ausgerechnet der Bund als Normgeber sich selbst ein Zeitfenster bis in die Mitte des Jahrhunderts einräumt.

Hinzu kommt, dass der Entwurf Transparenz vorsieht: Eigentümer bestimmter, vom Bund genutzter Bestandsbauten sollen regelmäßig veröffentlichen, welche Maßnahmen zum Abbau von Barrieren ergriffen wurden. Öffentliches Nachvollziehen kann Druck erzeugen – ersetzt aber nicht die Frage, ob die gesetzte Geschwindigkeit dem Anspruch der Gleichstellung gerecht wird.

Kommunikation als Hürde: Leichte Sprache, Gebärdensprache und barrierefreie Verwaltungsverfahren

Der Entwurf macht deutlich, dass Barrierefreiheit nicht bei Rampen beginnt und bei Aufzügen endet. Im Verwaltungsverfahren sollen künftig alle relevanten Dokumente barrierefrei sein, insbesondere Anträge, Begründungen, Nachfragen und Hinweise von Behörden.

Zudem soll es eine Pflicht geben, Menschen mit geistigen oder seelischen Behinderungen auf ihr Recht hinzuweisen, sich in einfacher und verständlicher Sprache beraten zu lassen. Das ist mehr als Symbolik: Verwaltungssprache kann faktisch ausschließen, selbst wenn ein Gebäude barrierefrei erreichbar ist.

Flankiert werden soll das durch ein neues Bundeskompetenzzentrum für Leichte Sprache und Deutsche Gebärdensprache bei der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit. Die Idee dahinter ist, die Bundesministerien und nachgeordneten Behörden nicht nur zu verpflichten, sondern in die Lage zu versetzen, systematisch bessere Angebote in Leichter Sprache und Gebärdensprache bereitzustellen. Gleichzeitig soll das Amt der oder des Bundesbehindertenbeauftragten gestärkt werden, um Wirksamkeit und Sichtbarkeit politisch zu erhöhen.

Digitale Barrierefreiheit und Aufsicht: Berichtspflichten, EU-Vorgaben und föderale Verzahnung

Ein weiterer Strang betrifft die digitale Barrierefreiheit. Der Entwurf ordnet Aufgaben der Überwachungsstelle für Barrierefreiheit von Informationstechnik neu, verankert eine Fachaufsicht beim BMAS und regelt die Zusammenarbeit mit den Ländern im Kontext europäischer Berichtspflichten.

Die Länder sollen der Überwachungsstelle Ergebnisse ihrer Prüfungen mitteilen, damit Berichte an die Europäische Kommission vorbereitet werden können. Damit wird die Reform auch zu einem Baustein in der Erfüllung europäischer Vorgaben zur Zugänglichkeit von Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen.

In der Begründung wird zudem sichtbar, dass der Gesetzgeber digitale Risiken breiter fasst als bislang: Der Entwurf nennt ausdrücklich auch „algorithmische Entscheidungssysteme“ als mögliche Quelle mittelbarer Benachteiligung. Das ist ein Signal an eine Realität, in der Zugänge, Bewertungen und Entscheidungen zunehmend automatisiert werden – und in der Menschen mit Behinderungen durch scheinbar neutrale Kriterien faktisch herausfallen können.

Private Anbieter: Einzelfalllösungen statt verbindlicher Standards – und die eingebaute Kostenschranke

Die eigentliche Zäsur des Entwurfs liegt im privaten Bereich. Private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen sollen Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligen dürfen. Das soll insbesondere dadurch abgesichert werden, dass im Einzelfall „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen sind, wenn sonst der Zugang scheitert. Der Entwurf setzt dabei bewusst nicht auf detaillierte technische Barrierefreiheitsvorschriften, sondern auf praktikable Lösungen vor Ort und auf den Dialog zwischen Beteiligten.

Gleichzeitig begrenzt der Entwurf diese Pflicht auf eine Weise, die den Streit vorprogrammiert. Für Unternehmen sollen „alle baulichen Veränderungen sowie Änderungen an Gütern und Dienstleistungen“ von vornherein als „unverhältnismäßige und unbillige Belastung“ gelten. Was als angemessene Vorkehrung übrig bleibt, verengt sich damit stark auf Maßnahmen, die ohne strukturelle Eingriffe auskommen.

Das kann im Einzelfall funktionieren, droht aber dort zu scheitern, wo Barrieren nicht mit einem Handgriff verschwinden, sondern mit baulichen oder organisatorischen Anpassungen verbunden sind.

Neu ist auch eine Duldungspflicht: Vermieter, Verpächter und Eigentümer sollen bestimmte Maßnahmen dulden, die ein Mieter oder Pächter benötigt, um seine Pflichten aus dem Gesetz zu erfüllen.

Damit erkennt der Entwurf ein praktisches Problem an, das in der Realität häufig entsteht: Selbst wenn ein Unternehmen bereit wäre, Zugänge zu verbessern, kann es an mietrechtlichen Grenzen scheitern. Ob diese Regelung in der Praxis ausreicht, hängt am Detail, das später Gerichte und Schlichtungsstellen beschäftigen dürfte.

Rechtsdurchsetzung ohne Schadensersatz: Warum die Debatte um Wirksamkeit so scharf geführt wird

Der Entwurf setzt bei Konflikten stark auf Schlichtung und niedrigschwellige Verfahren. Wer benachteiligt wurde, soll die Beseitigung der Benachteiligung verlangen können; wenn weitere Benachteiligungen zu erwarten sind, soll Unterlassung möglich sein. Ergänzend werden Beweislastregeln eingeführt, die Betroffenen im Streitfall helfen sollen, weil sie nicht jede innere Entscheidungslogik eines Unternehmens oder einer Behörde offenlegen können.

Die rote Linie verläuft dort, wo es um Geldansprüche geht. Für öffentliche Stellen sieht der Entwurf eine Haftung für den durch Benachteiligung entstandenen Schaden vor, wenn die Pflichtverletzung zu vertreten ist. Gegenüber privaten Unternehmen soll hingegen „kein Schadensersatzanspruch“ geltend gemacht werden.

Genau das ist der Punkt, an dem Kritiker wie der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt von einem Schutz sprechen, “der zwar auf dem Papier diskriminierungsfrei wirkt, in der Praxis aber zu wenig Druck entfaltet”.

Auch die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Corinna Rüffer, formulierte es drastisch und sprach von “einem Freibrief zur Fortsetzung von Diskriminierung, wenn ein Diskriminierungsverbot ohne Entschädigung bleibe.”

Auch Verbände aus der Selbsthilfe kritisieren, Barrierefreiheit werde dadurch eher zum freiwilligen Entgegenkommen als zu einem verlässlichen Standard. In dieser Kritik schwingt ein grundlegendes Verständnis von Antidiskriminierungsrecht mit: Verbote ohne spürbare Konsequenzen können in der Praxis stumpf werden, vor allem dort, wo sich Veränderungen nur mit Aufwand erreichen lassen. Dass die Schlichtungsstelle nach dem BGG seit Jahren steigende Fallzahlen meldet, wird in diesem Zusammenhang als Hinweis gelesen, wie groß der Konfliktstoff bereits im bestehenden System ist.

Das Verhältnis zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Zwei Rechtslogiken, ein Alltag

Seit dem 28. Juni 2025 gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) als Umsetzung des European Accessibility Act. Es verpflichtet für bestimmte Produkte und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit und arbeitet stärker mit konkreten Anforderungen.

Die BGG-Reform verfolgt hingegen eine andere Logik: weniger produktbezogene Standards, mehr Einzelfallanspruch über angemessene Vorkehrungen, dafür ein breiterer Blick auf alltägliche Zugänge.
In der Praxis wird genau dieses Nebeneinander anspruchsvoll.

Dort, wo BFSG-Pflichten greifen, sind Vorgaben klarer und eher überprüfbar. Dort, wo die BGG-Novelle ansetzen soll, droht die Umsetzung stark vom Engagement einzelner Anbieter, von der Konfliktbereitschaft Betroffener und von der Auslegung dessen abzuhängen, was noch „praktikabel“ ist. Der Entwurf wirbt damit, Überregulierung und Berichtspflichten zu vermeiden.

Aus Sicht des Sozialrechtsexperten Dr. Anhalt stellt sich jedoch die Gegenfrage: Ob Barrierefreiheit wirklich vorankommt, wenn ein Gesetz gerade dort weich bleibt, wo der Alltag am häufigsten Barrieren produziert.

Was jetzt auf dem Spiel steht

Der Entwurf markiert einen politischen Spagat. Er will Barrierefreiheit ausweiten und zugleich Unternehmen vor Belastungen schützen. Er will Rechte stärken und zugleich Konflikte über starre Vorgaben vermeiden. Er will den Bund verpflichten und räumt sich gleichzeitig lange Fristen ein. Diese Spannungen erklären, warum die Reform bereits im Referentenstadium so umkämpft ist.

Ob aus dem Entwurf am Ende ein Gesetz wird, entscheidet sich nicht nur an juristischen Formulierungen, sondern an der politischen Frage, wie ernst Deutschland Barrierefreiheit als Gleichstellungsauftrag nimmt. Wer Barrieren abbaut, baut Teilhabe auf. Wer Barrieren vertagt, vertagt Teilhabe. Und wer Barrierefreiheit im privaten Alltag nur dort verlangt, wo sie nichts kostet, riskiert, dass aus Gleichstellung ein höfliches Angebot wird – abhängig von Kulanz statt von Recht.