Schwerbehinderung: Neues Urteil – So bekommt man seinen GdB endlich anerkannt

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Wer einen Schwerbehindertenausweis beantragen will, benรถtigt oft Geduld und starke Nerven. Besonders รคrgerlich ist es, wenn das Versorgungsamt gar nicht reagiert. Genau so erging es einer Frau aus Baden-Wรผrttemberg: Mehrfach wandte sie sich mit neuen medizinischen Unterlagen und dem Wunsch nach einem Ausweis an die Behรถrde โ€“ ohne Ergebnis. Erst nach einer Klage entschied das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg (Az. L 8 SB 2779/24) in ihrem Sinne.

Die gute Nachricht: Das Gericht stellte klar, dass auch eine einfache, formlose Bitte um einen Behindertenausweis als vollwertiger Antrag gilt โ€“ inklusive GdB-Erhรถhung und Merkzeichen. AuรŸerdem kรถnnen Betroffene nach sechs Monaten Untรคtigkeit der Behรถrde direkt vor Gericht ziehen, ohne auf eine Ablehnung warten zu mรผssen.

Formlose Schreiben zรคhlen: Das Meistbegรผnstigungsprinzip schรผtzt Dich

Der Kern des Urteils ist das sogenannte Meistbegรผnstigungsprinzip. Dieses besagt: Wenn Du als nicht juristisch geschulter Mensch ein Anliegen รคuรŸerst, muss es von Behรถrden so interpretiert werden, wie es fรผr Dich am gรผnstigsten ist. Schreibst Du also einfach, dass Du einen Behindertenausweis beantragen mรถchtest, muss die Behรถrde das so verstehen, dass Du nicht nur den Ausweis willst, sondern auch die Prรผfung auf einen hรถheren Grad der Behinderung und alle mรถglichen Merkzeichen โ€“ zum Beispiel G, H oder aG.

In dem entschiedenen Fall hatte die Klรคgerin dem Amt mehrfach mitgeteilt, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Sie erwรคhnte neue Diagnosen, eine OP, eine Reha und Einschrรคnkungen beim Gehen oder Autofahren. Trotzdem schob das Versorgungsamt ihre Schreiben beiseite, mit der Begrรผndung, es handelt sich nicht um einen โ€žrichtigenโ€œ Antrag. Diese Praxis wies das Gericht zurรผck.

Wรถrtlich heiรŸt es in der Entscheidung: โ€žIm Zweifel ist davon auszugehen, dass ein Klรคger alles zugesprochen haben mรถchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht.โ€œ

Untรคtigkeitsklage: Wenn das Versorgungsamt schweigt

Ein besonders praxisrelevanter Teil des Urteils betrifft die sogenannte Untรคtigkeitsklage nach ยง 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sobald Du einen Antrag auf GdB-Erhรถhung oder ein Merkzeichen stellst, beginnt eine Frist zu laufen. Reagiert die Behรถrde sechs Monate lang nicht, darfst Du klagen โ€“ auch ohne einen Ablehnungsbescheid.

Das Landessozialgericht betont ausdrรผcklich: Selbst wenn Du kein amtliches Formular ausgefรผllt hast oder keine vollstรคndigen Unterlagen vorliegen, ist das kein Grund fรผr die Behรถrde, einfach nichts zu tun. Sie ist verpflichtet, auf Deinen Antrag zu reagieren โ€“ und wenn nรถtig, einen Versagungsbescheid wegen fehlender Mitwirkung zu erlassen. Einfach zu schweigen ist rechtswidrig.

In dem vorliegenden Fall hatte die Frau ihre Mitwirkung teilweise verweigert, unter anderem durch die Ablehnung von Schweigepflichtentbindungen fรผr ihre ร„rzte. Trotzdem hรคtte das Versorgungsamt entweder eine Entscheidung treffen oder die Mitwirkung formell anmahnen mรผssen. Da es das nicht tat, war die Klage zulรคssig โ€“ und erfolgreich.#

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Rente ist nicht gleich GdB: Darum benรถtigst Du trotzdem einen Antrag

Ein weiterer hรคufiger Irrtum wurde in dem Verfahren ebenfalls geklรคrt: Viele Menschen glauben, der Bezug einer Rente fรผr schwerbehinderte Menschen reicht aus, um als schwerbehindert anerkannt zu sein. Doch das ist falsch. Auch wer diese spezielle Altersrente erhรคlt, hat nicht automatisch einen gรผltigen GdB von 50 oder Anspruch auf ein Merkzeichen.

Der Schwerbehindertenausweis wird nur dann ausgestellt, wenn das zustรคndige Amt einen GdB von mindestens 50 feststellt โ€“ und diese Feststellung muss gesondert beantragt werden. Rentenbescheide, auch solche wegen Erwerbs oder Berufsunfรคhigkeit, ersetzen diesen Antrag nicht.

Das Gericht stellte klar: Auch bei einem bestehenden Rentenanspruch kann das Versorgungsamt den Ausweis verweigern, wenn kein entsprechender GdB festgestellt wurde. Ein formeller Antrag auf GdB-Erhรถhung und Feststellung von Merkzeichen ist also immer nรถtig.

Merkzeichen G und H: Was Du im Antrag beachten solltest

Im konkreten Fall ging es der Klรคgerin vor allem um die Merkzeichen G fรผr โ€žerhebliche Gehbehinderungโ€œ und H fรผr โ€žHilflosigkeitโ€œ. Beide bringen praktische Vorteile: Mit dem Merkzeichen G kannst Du kostenlose oder vergรผnstigte Fahrten im รถffentlichen Nahverkehr nutzen und ggf. Kfz-Steuer sparen. Mit dem Merkzeichen H bekommst Du unter bestimmten Bedingungen mehr Pflegegeld, einen Mehrbedarf beim Bรผrgergeld oder steuerliche Erleichterungen.

Das Gericht entschied: Sobald Du in einem Schreiben erwรคhnst, dass Du einen Behindertenausweis mit dem Buchstaben G oder H benรถtigst, ist das als vollstรคndiger Antrag auf Prรผfung dieser Merkzeichen zu werten. Es reicht aus, wenn Du deutlich machst, dass sich Dein Zustand verschlechtert hat und Du den Ausweis benรถtigst โ€“ zum Beispiel wegen Mobilitรคtsproblemen, Pflegebedรผrftigkeit oder medizinischer รœberwachung.

Was das Urteil fรผr Dich bedeutet โ€“ und wie Du jetzt handeln kannst

Fรผr alle, die auf einen Behindertenausweis oder eine GdB-Erhรถhung warten, ist das Urteil ein wichtiger Schritt. Du musst Dich nicht lรคnger von der Behรถrde hinhalten lassen oder aufgeben, nur weil Du kein offizielles Formular abgeschickt hast. Sobald Du ein formloses Schreiben einreichst, das Deinen Wunsch klarmacht, beginnt die Frist zu laufen โ€“ und das Amt muss reagieren.

Wenn sechs Monate vergehen, ohne dass Du einen Bescheid erhรคltst, kannst Du eine Untรคtigkeitsklage einreichen. Diese ist kostenfrei. Und solltest Du Dir unsicher sein oder Hilfe benรถtigen, hast Du Anspruch auf Beratungshilfe oder Prozesskostenhilfe.

Wichtig ist: Dokumentiere Deine Antrรคge sorgfรคltig, notiere das Eingangsdatum, bewahre รคrztliche Unterlagen gut auf und reagiere auf Rรผckfragen der Behรถrde โ€“ sofern mรถglich. Falls Du merkst, dass das Amt Dich hinhรคlt, kann eine Klage nicht nur Deinen eigenen Fall voranbringen, sondern auch ein Signal setzen.

Rechte enden nicht am Schreibtisch des Versorgungsamts

Das Urteil des Landessozialgerichts zeigt: Du hast mehr Rechte, als Dir Behรถrden manchmal glauben machen wollen. Es geht nicht um perfekte Antrรคge, sondern um klare Anliegen. Wer krank ist, darf sich auf das Sozialrecht verlassen โ€“ auch dann, wenn Formulare fehlen oder Amtsรคrzte zweifeln.