Eine neuromuskulรคre Erkrankung, deren genauer Hintergrund sich trotz zahlreicher Spezialuntersuchungen nicht klรคren lรคsst, stellt Betroffene vor doppelte Hรผrden: kรถrperliche Einschrรคnkungen und den Kampf um rechtliche Anerkennung.
Rund eine halbe Million Menschen in Deutschland leben mit Myopathien oder vergleichbaren neuromuskulรคren Stรถrungen โ viele davon ohne eindeutige Diagnose, weil Gen- oder Antikรถrpertests noch keine aussagekrรคftigen Ergebnisse liefern.
Fรผr sie kann der Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen โaGโ (auรergewรถhnlich gehbehindert) den Unterschied zwischen Teilhabe und Isolation bedeuten.
Inhaltsverzeichnis
Unsichtbare Leiden und ihr gesellschaftliches Stigma
Wรคhrend sichtbare Behinderungen das Begutachtungssystem selten vor groรe Glaubwรผrdigkeitsfragen stellen, gilt das Gegenteil fรผr unsichtbare Erkrankungen. Fachanwรคlte fรผr Sozialrecht berichten immer wieder, dass Sachverstรคndige funktionelle Einschrรคnkungen unterschรคtzen, wenn Rรถntgenbilder oder Laborwerte keinen greifbaren Befund liefern.
Dieses Misstrauen trifft Patientinnen und Patienten mit chronischer Fatigue ebenso wie Menschen mit rรคtselhaften neuromuskulรคren Defekten.
Der Spagat zwischen dem eigenen Erleben massiver Einschrรคnkungen und der Aufgabe, sie vor Gutachtern โbeweisbarโ zu machen, zermรผrbt viele dauerhaft Erkrankte.
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Rechtlicher Rahmen: Was hinter ยง 152 Abs. 4 SGB IX steckt
Die rechtliche Basis fรผr jedes Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis bildet ยง 152 Abs. 4 des Sozialgesetzbuchs IX. Dort heiรt es, dass neben dem Grad der Behinderung (GdB) weitere gesundheitliche Merkmale festzustellen sind, wenn sie Voraussetzung fรผr Nachteilsausgleiche sind โ darunter das Merkzeichen โaGโ.
Ergรคnzend konkretisiert Teil D der Versorgungsmedizin-Verordnung, wer als auรergewรถhnlich gehbehindert gilt. Im Mittelpunkt steht nicht die Diagnose, sondern die Frage, ob jemand dauerhaft โ auch auf kรผrzesten Wegstrecken โ ohne Rollstuhl oder gleichwertige Hilfe nicht mobil sein kann.
Aktuelle Rechtsprechung: Rollstuhlpflicht entscheidend, Sturzgefahr alleine nicht
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in mehreren Leitentscheidungen klargestellt: Eine bloรe Sturzgefahr reicht nicht aus, wenn der Betroffene nicht durchgรคngig auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Erst wenn Rollstuhlpflicht und erhebliche Mobilitรคtseinschrรคnkung im รถffentlichen Raum zusammentreffen, liegt die hohe Schwelle des Merkzeichens โaGโ vor.
Die Gerichte argumentieren dabei streng, um das knappe Gut der Parkerleichterungen fรผr diejenigen vorzuhalten, denen sonst auch wenige Meter unรผberwindbar wรคren.
Medizinische Begutachtung
Im Praxisalltag verlangt das Versorgungsamt hรคufig fachรผbergreifende Gutachten โ bei neuromuskulรคren Stรถrungen nicht selten zusรคtzlich eine psychiatrische Untersuchung.
Der Hintergrund: Gutachter wollen ausschlieรen, dass primรคr psychische Faktoren das Gangbild beeinflussen oder Symptome simuliert werden.
Fรผr die Betroffenen kann diese Konstellation entwรผrdigend wirken, vor allem, wenn jahrelange neurologische Befunde bereits vorliegen. Doch aus juristischer Sicht empfiehlt es sich, jedes angeordnete Gutachten zunรคchst mitzumachen; eine Verweigerung kรถnnte als fehlende Mitwirkung ausgelegt werden und den Antrag unnรถtig verzรถgern.
Strategie der โvielen kleinen Kieselsteineโ
Wesentlich ist stattdessen, eine lรผckenlose Dokumentation der funktionellen Einschrรคnkungen aufzubauen. Verordnungen und Berichte von Physiotherapeutinnen, Ergotherapeuten, Neurologinnen, aber auch die halbjรคhrlichen Pflegegrad-Begutachtungen kรถnnen detailliert belegen, dass ein Rollstuhl dauerhaft notwendig ist und eine erhebliche Sturzgefรคhrdung besteht.
In der Summe dieser โKieselsteineโ liegt eine Beweislast, die Gerichte kaum ignorieren kรถnnen, selbst wenn die pathologische Wurzel der Erkrankung weiter im Dunkeln bleibt.
Gutachterliche Grauzonen und das Selbstbewusstsein der Antragsteller
Unsichtbare oder unbekannte Krankheiten stoรen in der Begutachtung an eine systemische Grenze: Der Wunsch nach harten Daten kollidiert mit der Realitรคt komplexer, teils erst in Forschung befindlicher Krankheitsbilder.
Die Betroffenen spรผren dies in oft fragwรผrdigen Formulierungen โ bis hin zum unterschwelligen Verdacht der Simulation. Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt rรคt, diese Konfrontationen “nicht persรถnlich zu nehmen, sondern als Teil des Verfahrens”. Wichtig sei, “dass sich die objektive Mobilitรคtseinschrรคnkung belegen lรคsst; das โWarumโ tritt, rechtlich betrachtet, in den Hintergrund”, so Anhalt.
Perspektiven: Teilhabe sichern, Forschung vorantreiben
Fรผr Patientinnen und Patienten mit seltenen neuromuskulรคren Stรถrungen bleibt der Schwerbehindertenausweis ein zentrales Instrument, um im Alltag Barrieren abzubauen.
Zugleich zeigt ihr Fall, wie dringend die Medizin verlรคssliche Diagnosewege braucht. Je besser genetische Testverfahren und Biomarker werden, desto geringer wird kรผnftig die Zahl der โunbekanntenโ Erkrankungen sein โ und desto seltener mรผssen Gerichte entscheiden, ob ein Rollstuhl โaus psychischen Grรผndenโ benutzt wird.
Bis dahin gilt: Wer glaubhaft nachweisen kann, dass er ohne Rollstuhl drauรen nicht sicher gehen kann, hat nach geltendem Recht einen Anspruch auf das Merkzeichen โaGโ โ auch ohne eindeutige Diagnose.




