Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Urteil (Az. III ZR 466/16) bekräftigt, dass Sozialhilfeträger Menschen mit Behinderungen umfassend beraten müssen. Behördliche Sachbearbeitende sind demnach verpflichtet, leistungsberechtigte Personen auf mögliche Rentenansprüche hinzuweisen, wenn sich deren Bedarf während der Antragstellung deutlich abzeichnet.
Wer sich auf Sozialhilfe verlässt, obwohl eine Rentenberechtigung besteht, verliert mitunter erhebliche Beträge. Das Urteil mahnt alle Sozialhilfeträger, ihre Informationspflicht ernst zu nehmen.
Hintergrund des Verfahrens
Der Fall betraf einen schwerbehinderten Mann, dessen Behinderungsgrad seit seiner Kindheit auf 100 Prozent festgelegt war. Seine Mutter übte die gesetzliche Betreuung aus und beantragte im Jahr 2004 laufende Grundsicherungsleistungen. Dabei verneinte sie einen Rentenanspruch, weil ihr keine Hinweise auf eine mögliche Erwerbsminderungsrente vorlagen.
Die zuständige Behörde bewilligte ihm daraufhin bis 2011 Sozialhilfe. Erst eine neue Sachbearbeiterin klärte die Familie später auf, dass der Betroffene auch eine Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalten könnte.
Daraufhin stellte der Mann im Jahr 2011 einen Rentenantrag, der auch bewilligt wurde. Die Deutsche Rentenversicherung bestätigte rückwirkend, dass die Erwerbsminderung bereits 2004 eingetreten war. Dennoch konnte die Rente nicht für die Zeit vor 2011 nachgezahlt werden, weil Antragstellungen in der Regel nicht unbeschränkt rückwirkend wirken.
So entstand ihm eine erhebliche finanzielle Lücke. Er klagte vor Gericht und argumentierte, die Behörde hätte ihn viel früher auf mögliche Rentenansprüche hinweisen müssen.
Streitpunkt und wesentliche Argumente
Der Kläger forderte Schadensersatz vom zuständigen Landkreis. Seine Begründung: Die Behörde hätte eine Beratungspflicht gemäß Sozialgesetzbuch (SGB) gehabt, insbesondere aus § 14 SGB I. Danach sind Sozialleistungsträger zu umfassenden Hinweisen verpflichtet, wenn klar erkennbar ist, dass ein Ratsuchender weitere Leistungen in Anspruch nehmen könnte.
Für Menschen mit schwerer Behinderung, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, ist eine Erwerbsminderungsrente ein naheliegendes Thema.
Das beklagte Sozialamt vertrat hingegen die Ansicht, dass eine Rentenberatung nur den Trägern der Rentenversicherung obliegt. Man habe sich darauf verlassen, dass die Mutter keinen Rentenanspruch sah. Folglich habe kein Anstoß bestanden, von Amts wegen tätig zu werden.
Ein Kollege des Landratsamts hatte die frühzeitige Kontaktaufnahme mit der Rentenversicherung versäumt. Er ging stattdessen davon aus, dass sich die Betroffenen bereits umfassend informiert hätten.
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Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der BGH hob das Berufungsurteil auf. Er stellte klar, dass Sozialhilfeträger Bürger nicht „sehenden Auges“ in eine finanzielle Benachteiligung laufen lassen dürfen. Behördliches Fachwissen dürfe nicht allein darauf beschränkt sein, den eigenen Leistungsbereich abzudecken. Gerade im verzahnten Sozialrecht sei es nötig, Ratsuchende auf weitere mögliche Ansprüche aufmerksam zu machen, sobald sich deren Bedarf aufdrängt.
Die Richter betonten, dass eine kurze Information genügt hätte: Die Behörde hätte dem Kläger oder seiner Mutter lediglich empfehlen müssen, den Rentenversicherungsträger zu konsultieren. Niemand verlangt, dass das Sozialamt selbst konkrete Rentenberechnungen anstelle.
Es geht nur um den Hinweis auf mögliche Ansprüche. Dass die Mutter im Antragsformular ein Kreuz bei „kein Rentenanspruch“ setzte, entband die Behörde nicht von ihrer Mitwirkungspflicht. Ein naheliegender Rentenanspruch gehört zum Basiswissen, wenn jemand dauerhaft erwerbsgemindert ist.
Warum das Urteil wichtig ist
Menschen mit Behinderung dürfen nun eher damit rechnen, von Sozialhilfeträgern aktiv über mögliche Alternativen informiert zu werden. Obwohl konkrete Rentenberechnungen weiterhin dem Rentenversicherungsträger vorbehalten bleiben, müssen kommunale Behörden zumindest auf die Option einer Rente hinweisen.
So lassen sich Finanzierungslücken vermeiden, weil ein frühzeitiger Kontakt zum Rententräger in vielen Fällen einen rechtzeitigen Rentenbeginn ermöglicht und mögliche Nachzahlungen nicht verloren gehen.
Zudem verdeutlicht das Urteil, dass Behörden an mehreren Stellen eng kooperieren sollten, um Doppelstrukturen oder Informationsdefizite zu vermeiden. Der Gesetzgeber hat schließlich im Sozialgesetzbuch festgeschrieben, dass verschiedene Sicherungssysteme miteinander verzahnt sind.
Relevante Rechtsgrundlagen und Praxisbeispiele
Mehrere Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sowie verschiedene Bestimmungen des SGB VI (Rentenversicherung) und des SGB XII (Sozialhilfe) spielen hier zusammen. § 14 SGB I besagt allgemein, dass jeder Bürger Anspruch auf Beratung zu seinen Rechten hat.
Diese Informationspflicht entfällt nicht deshalb, weil man die Fachaufsicht für ein anderes Rechtsgebiet nicht selbst innehat.
Ein denkbares Praxisbeispiel: Eine Person mit geistiger Behinderung kann mit 27 Jahren eine Werkstatt für behinderte Menschen nicht weiter besuchen. Das Sozialamt springt ein und gewährt Grundsicherung.
Wenn die gesundheitliche Situation eindeutig auf eine dauerhafte Erwerbsminderung schließen lässt, sollte die Sachbearbeitung spontan an eine mögliche Rentenberechtigung denken. Dieser kurze Hinweis schützt die Person vor Einkommensverlusten und verhindert unnötige Doppel-Leistungen.
Auswirkungen auf die Beratungspflicht
In Zukunft werden Sozialbehörden verstärkt darauf achten, ihre Beratungspflicht ernst zu nehmen. Die BGH-Rechtsprechung signalisiert: Ein Versäumnis kann hohe Schadensersatzforderungen nach sich ziehen. Die Entscheidung zeigt auch, dass Gerichte den Nachrang der Sozialhilfe nicht nur als Kostenschutz für die Landkreise verstehen. Vielmehr profitieren Betroffene davon, wenn sich die Sozialämter als Lotsen begreifen.
Interessierte Bürger haben jetzt eine klare Grundlage, um bei fehlender Beratung Regressansprüche zu prüfen. Wer also in vergleichbarer Lage ist, sollte sich nicht nur auf mündliche Auskünfte beschränken. Ein schriftlicher oder nachweisbarer Kontakt mit dem Sozialamt und dem Rentenversicherungsträger verringert das Risiko, jahrelang Leistungen zu verpassen.
Das Urteil könnte damit viele ähnliche Fälle beeinflussen. Vereine für Behindertenhilfe, Betreuungsvereine und Sozialverbände beobachten die Folgen aufmerksam. Für sie bestätigt der BGH, dass nur eine koordinierte Beratungspraxis wirkliche Sicherheit schafft.
Kurzfristig kann diese Entscheidung den Verwaltungsaufwand steigern, langfristig jedoch Fehlberatungen reduzieren. Dadurch schützen sich Betroffene vor finanziellen Einbußen und Landkreise vor Haftungsstreitigkeiten.