Obdachlos und psychisch krank – Die Schutzlosesten der Schutzlosen

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Ein รผbergroรŸer Teil der Obdachlosen leidet unter psychiatrischen Erkrankungen. Hรคufig sind diese der Grund fรผr den Verlust der Wohnung, bisweilen aber auch eine Folge der zermรผrbenden Lebensbedingungen. Der Sozialstaat versagt gerade bei denjenigen, die ihn am nรถtigsten brauchen.

Wieviele Obdachlose leiden unter psychischen Erkrankungen?

Die Studienlage ist eindeutig. Der Anteil derjenigen unter den Menschen ohne Obdach, die zumindest eine psychiatrisch diagnostizierte Erkrankung aufweisen betrรคgt zumindest รผber 70 Prozent, bei manchen Studien รผber 90 Prozent.

Dies geht sehr oft einher mit Suchterkrankungen wie Alkoholismus. Die Rate an psychischen Erkrankungen ist in Deutschland unter Obdachlosen weit hรถher als in der Gesamtbevรถlkerung.

Die medizinische Behandlung dieser Krankheiten ist bei Obdachlosen umgekehrt viel schlechter als in der Gesamtbevรถlkerung. Dabei geht es auch um Leiden wie Depressionen, Bipolaritรคt oder paranoide Schizophrenie, bei denen das Sterberisiko. die Suizidgefahr und die Gefahr, tรถdliche Unfรคlle zu erleiden sehr hoch ist.

Welche psychiatrischen Erkrankungen betreffen Obdachlose am meisten?

Die hรคufigsten psychiatrischen Stรถrungen unter Obdachlosen sind Psychosen / Wahnvorstellungen. Diese gehen oft einher mit dem, im Vergleich zur Gesamtbevรถlkerung, hohen Anteil an Alkoholismus und anderen Drogenkrankheiten. Persรถnlichkeitsstรถrungen, Angststรถrungen und Depressionen treten unter Wohungslosen ebenfalls weit hรคufiger auf als im Durchschnitt der Bevรถlkerung.

Verlierer auf dem Wohnungsmarkt

Die Mieten in den GroรŸstรคdten werden immer teurer, und die Konkurrenz um die knappen Wohnungen ist immens.

Menschen mit psychischen Erkrankungen sind Verlierer bei der Wohnungssuche. In der Wohnungsnotfallhilfe ist der Anteil psychisch Kranker weit hรถher als im Gesamtdurchschnitt der Gesellschaft.

Sehr hรคufig haben die Betroffenen wegen ihrer Erkrankungen garkein oder zumindest kein sicheres Einkommen. Dies fรผhrt dann, zusammen mit auffรคlligem Verhalten, dazu, dass Vermieter sie ablehnen. Allzu viele psychisch Erkrankte landen nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik auf der StraรŸe.

Hรคufiger krank und seltener diagnostiziert

Eine Studie des Universitรคtsklinikums Hamburg-Eppendorf unter circa 650 Wohnungslosen in Deutschland ergab ein krasses Missverhรคltnis zwischen der Selbsteinschรคtzung der Betroffenen und einer fachlich-objektiven Einschรคtzung. (Franziska Bertram et.al. The mental and physical health of the homelessโ€”evidence from the National Survey on Psychiatric and Somatic Health of Homeless Individuals (the NAPSHI study). Deutsches ร„rzteblatt, Dezember 2022. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0357)

Studienleiter Fabian Heinrich vom Institut fรผr Rechtsmedizin des UKE erklรคrt: โ€žDarรผber hinaus berichteten rund 23 Prozent der Studienteilnehmenden von einer รคrztlich diagnostizierten psychischen Erkrankung. Bei rund 70 Prozent der wohnungslosen Menschen gab es zudem Hinweise auf das Vorliegen einer mรถglichen unbekannten psychischen Erkrankung.โ€œ

Huhn oder Ei?

In den Biografien vieler Obdachloser mit psychischen Erkrankungen stehen die Krankheit und das fehlende Dach รผber dem Kopf im Wechselspiel.

Egal, ob jemand erst die Wohnung verlor und dann erkrankte, oder erst erkrankte und dann die Wohnung verlor – ohne Obdach verschรคrft sich die Situation dramatisch.

Die Studienlage zeigt, dass rund zwei Drittel der psychisch erkrankten Obdachlosen bereits vor ihrer Obdachlosigkeit erkrankt waren. Professorin Monika Brรถnner, die eine Studie zum Thema leitete, erlรคuterte gegenรผber der Sรผddeutschen Zeitung:

“Zwischen den ersten Symptomen einer psychischen Erkrankung und dem Verlust der Wohnung vergehen im Schnitt sechseinhalb Jahre.”

Die Berliner Psychiaterin Stefanie Schreiter machte gegenรผber der Sรผddeutschen deutlich, dass es auch umgekehrt sein kann:

“Wenn ich mich in der Notlage einer Wohnungslosigkeit befinde, ist es ganz klar, dass sich dann psychische Erkrankungen auch verschlechtern kรถnnen – oder erst entstehen.”

Die Zeitschrift sozialpsychiatrische informationen fasst zusammen: “Die Lebensweise ohne sicheren Wohnraum birgt einige psychische Risikofaktoren fรผr die betroffenen Menschen, aber ebenso hoch ist die Gefahr des Verlustes des eigenen Wohnraums fรผr Menschen aufgrund einer akuten psychischen Stรถrung und einer komplexen sozialen Problemlage (z. B. Trennung, Jobverlust oder Verschuldung).”

Risiken potenzieren sich

Risiken, denen Obdachlose generell ausgesetzt sind, verschรคrfen sich, wenn eine psychische Erkrankung hinzukommt. Menschen mit Depressionen fehlen Schutzrรคume, in denen sie ihre Ruhe haben; wer unter einer Psychose leidet, verliert den รœberblick รผber die Dinge, die zum รœberleben drauรŸen notwendig sind, etcetera. Der Zugang zu einer bedarfsgerechten Unterstรผtzung ist massiv erschwert.

Doppelt ausgegrenzt

Menschen, die erstens obdachlos sind und zweitens unter psychiatrischen Erkrankungen leiden, erfahren eine doppelte Ausgrenzung. Innnerhalb der Familie sind die Betroffenen oft ein Tabuthema.

Mit den Erkrankungen einher gehende Verhaltensauffรคlligkeiten fรผhren bisweilen dazu, dass Anwohner die Betroffenen als bedrohlich empfinden statt als hilfebedรผrftig. Schnell sind die Betroffenen polizeibekannt, und allzuleicht kommt zu der psychischen Erkrankung die Kriminalisierung hinzu.

Henning Dassler. Professor fรผr Gemeindepsychiatrie, fordert: โ€žEs muss das Ziel sein, wohnungslose psychisch erkrankte Menschen wieder stรคrker in ihrer Eigenschaft als Individuen mit komplexen Bedรผrfnissen und Ressourcen wahrzunehmenโ€œ