Kritik an der Hartz IV- Instrumentenreform

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Warum die Instrumentenreform in die falsche Richtung weist. Ein Positionspapier

Die überarbeitete Referentenentwurf für ein Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (Instrumentenreform) stößt auf erhebliche Skepsis. Schon vor der Kabinettsbefassung haben alle Wohlfahrtsverbände aber auch der "Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge" erhebliche Bedenken gegen die verschiedenen Referentenentwürfe zur Instrumentenreform geäußert. Die Bedenken des DW EKD sind auch durch die teilweise überarbeitete Fassung nicht ausgeräumt.

Stigmatisierung – ALG II-Berechtigte werden zu Bürgern 2. Klasse
Die Instrumentenreform sieht vor, dass Rechtsmittel von ALG II-Berechtigten gegen Entscheidungen der Grundsicherungsträger des SGB II (Grundsicherungsträger) keine aufschiebende Wirkung mehr haben (§ 39 n.F.). Das galt bereits vorher für alle Leistungs- und Überleitungsbescheide der Grundsicherungsträger und soll nunmehr auch für alle Bescheide gelten, mit denen Leistungen zurückgenommen, widerrufen, herabgesetzt, Pflichten aufgegeben und zur Beantragung einer vorrangigen Leistung oder persönlichen
Meldung aufgefordert wird.

Für ALG II-Berechtigte werden damit die Wirkung von Rechtsmitteln und die allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland zustehenden Bürgerrechte massiv eingeschränkt. Die Möglichkeit des einstweiligen Rechtsschutzes schützt die Rechte der Menschen nicht ausreichend. Dort wird nur in einer summarischen Prüfung auf Grund der Aktenlage entschieden. Eine Pflicht zur mündlichen Anhörung besteht nicht. Das Ergebnis der summarischen Prüfung im einstweiligen Rechtsschutz kann auch Auswirkungen auf die
summarische Prüfung im Prozesskostenhilfeverfahren für die Hauptsache haben. Wird die Prozesskostenhilfe abgelehnt, ist ALG II-Berechtigten der Rechtsweg versperrt. Bei einer Fehlerquote der Bescheide der Grundsicherungsträger von aktuell rd. 40% ist das inakzeptabel. Die systematische Entrechtung von unterstützungsbedürftigen Bürgern stört das Gleichgewicht zwischen Bürger und Staat erheblich. Es stellt sich die Frage, ob die angedachte – und auch schon die bereits bestehende – Regelung mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Rechtswegsgarantie des Grundgesetzes vereinbar ist.

Die Verfahrensrechte von ALG II-Berechtigten sind daher wiederherzustellen. Zur Stärkung ihrer Bürgerrecht sind auch ALG II-Berechtigten Rechtsansprüche auf die Eingliederungsleistungen zuzugestehen, wie es in der Behindertenhilfe, Altenhilfe und Gefährdetenhilfe auch der Fall ist. Die Einführung von Rechtsansprüchen auf Einzelmaßnahmen, wie z.B. die Vorbereitung auf einen Hauptschulabschluss oder berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen reichen dazu nicht aus. Vielmehr muss strukturell ein Rechtsanspruch auf Vermittlung und Eingliederungsleistungen eingeführt werden, der die individuellen Voraussetzungen und Wünsche des Leistungsberechtigten berücksichtigt.

Standardisierung – und am Bedarf vorbei
Die meisten neugefassten Leistungen sind demnächst über das Vergaberecht auszuschreiben. Das gilt unmittelbar für die Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (§ 46 SGB III n.F.) und die Leistungen zur Förderung der Berufsausbildung (§ 240 SGB III n.F.) sowie mittelbar immer noch für die freie Förderung (§ 16f SGB II n.F.).

Die Unterstützung benachteiligter Menschen auf dem Wege der Arbeitsmarktintegration, wie sie von den o.g. Instrumenten auch verfolgt wird, wird durch die Anwendung des Vergaberechts massiv eingeschränkt. Diese Unterstützung macht gerade bei benachteiligten Menschen nur Sinn, wenn sie individuell auf den Menschen zugeschnitten ist. Dabei ist der Gesamtbedarf in den Blick zu nehmen, der auch über das SGB II und III hinausgehen kann. Die Ausschreibung von Leistungen verhindert individuelle Hilfen und führt zu Standardisierungen. Im Gesetz flexibel ausgestaltete Leistungen werden so durch die Anforderungen des Vergabeverfahrens zur konkreten Leistungsbeschreibung und die bereits heute schon umfassenden Hinweise der Arbeitsverwaltung eingeschränkt. Schnittmengen zu anderen Sozialleistungsträgern bleiben unberücksichtig. Die Reibungsverluste zwischen den Kostenträgern zu Lasten der Menschen werden dadurch größer und nicht kleiner.

Eingekaufte Leistungskontingente müssen darüber hinaus belegt werden. Schon heute ist es gängige – und uneffektive – Praxis, dass Menschen nicht geeigneten Maßnahmen zugewiesen werden, weil Leistungskontingente nicht ausgeschöpft werden. Individuelle Hilfe
bedeutet aber nicht, dass sich Menschen den Leistungen anpassen. Die Leistung muss für den Menschen geeignet und erforderlich sein, wenn sie etwas bewirken soll.

Zur Steigerung von Effektivität und Effizienz muss bei flexiblen Leistungen auch der Zugang zu den Leistungen flexibel sein. Das kann z.B. dadurch bewirkt werden, dass Träger – wie im Bildungsbereich teilweise auch – zur Leistungserbringung zugelassen werden oder wie im SGB II vorgesehen, Verträge nach § 17 SGB II vor Ort geschlossen werden.

Bürokratisierung – Spielräume werden eingeschränkt
Neben dem Vergaberecht führt die inhaltliche Ausgestaltung der Instrumente zur Bürokratisierung und Einschränkung von Spielräumen. Das gilt z.B. für die Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung
(§ 46 SGB III n.F.) oder auch für die freie Förderung (§ 16f SGB II n.F.).

Zur Überwindung ihrer Notsituationen benötigen erwerbslose Menschen individuelle Hilfen. Der Unterstützungsbedarf arbeitsuchender Menschen richtet sich in der Praxis nicht nach den Grenzen der Zuständigkeiten unterschiedlicher Kostenträger. Vielmehr ist es notwendig, dass die einzelnen Sozialleistungen unterschiedlicher Kostenträger – und gemeint sind hier nicht nur die Träger der Grundsicherung – für den Menschen passgenau zusammengestellt werden, um den Leistungsbezug dauerhaft zu reduzieren bzw. zu
beenden. Die Fallmanager erfüllen diese Aufgaben aus unterschiedlichen Gründen (fehlende Qualifikation, fehlende Zuständigkeit, fehlendes Selbstverständnis, fehlende Zeit usw.) nicht. Das fehlende Zusammenwirken der Kostenträger wird aber auch in der Instrumentenreform nicht gelöst. Vielmehr werden neue Hürden aufgebaut. Die Ausgestaltung von § 46 SGB III n.F. verhindert z.B. durch die zeitliche Befristung der Vermittlung von beruflichen Kenntnissen oder der betrieblichen Erprobungen im Kontext der Aktivierung und Eingliederung erfolgreiche Maßnahmen, mit der bisher Personengruppen angesprochen werden konnten, die mit standardisierten Erprobungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen nicht erreicht werden. § 16f SGB II n.F., der mit dem Ziel der freien Förderung innovative und flexible Maßnahmen ermöglichen soll, schließt durch das Aufstockungsverbot gerade die individuelle Ergänzung und Entwicklung von Leistungen aus.

Die in der Praxis so wichtigen und erfolgreichen individuellen Leistungen für besondere Bedarfslagen – die bisher u.a. als sonstige weitere Leistungen erbracht worden waren – sind damit in der Zukunft nicht mehr möglich. Je einseitiger die Abgrenzung aus Perspektive eines Kostenträgers erfolgt, umso weniger können individuell aufeinander abgestimmte Leistungen entwickelt werden. Dadurch wird allen Beteiligten mehr bürokratischer Aufwand abverlangt, der Kosten verursacht, ohne zielgerichtete Leistung zu ermöglichen. Aus der Perspektive Arbeitsuchender ist es dringend geboten, Leistungskomplexe sinnvoll miteinander kombinierbar zu machen. Dabei darf es nicht darauf ankommen, ob ein oder mehrere Kostenträger beteiligt sind. Vielmehr muss es allen Kosten- trägern – insbesondere aber auch der Arbeitsverwaltung – möglich gemacht werden, ihre Leistungen mit anderen Leistungen kombinierbar zu machen. Zentrale Steuerung, Bürokratisierung und Standardisierung von Leistungen stehen dem entgegen. Die Verlagerung von Entscheidungskompetenz auf die einzelnen Agenturen oder Kommunen vor Ort und mehr Flexibilität für diese könnte dagegen helfen.

Zentralisierung – Weisungsbefugnisse werden ausgebaut
Mit der nahezu flächendeckenden Einführung des Vergaberechts und der abgrenzenden Neuausrichtung der Aufgaben werden die Weisungsbefugnisse weiter ausgebaut und einer Zentralisierung im Bereich der Arbeitsverwaltung Vorschub geleistet. Daran ändert auch der Einkauf über regionale Einkaufszentren nichts, weil sie wegen der Komplexität der Verfahren zur eigenen Absicherung im Wesentlichen die bundesweiten Empfehlungen der Bundesagentur für Arbeit umsetzen, und lokale Erfordernisse nur nach einem bürokratischen Verfahren berücksichtigt werden können.

Um allen Arbeitsuchenden einen besseren und effektiveren Zugang zu den Leistungen der Arbeitsmarktsintegration
zu ermöglichen, sollten mit der Einführung des SGB II Leistungen aus einer Hand ermöglicht werden. Ziel war nicht nur die Verbesserung der Zusammenarbeit der beiden Grundsicherungsträger für die Menschen. Ziel war auch, dass beide Organisationsformen von den jeweils erfolgreichen Arbeitsformen lernen sollten. Die Instrumentenreform berücksichtigt die erfolgreichen dezentralen Arbeitsformen auf lokaler Ebene nicht. Eingebettet in die zentrale Steuerung der Arbeitsverwaltung ist davon auszugehen, dass die bereits jetzt umfänglichen Arbeitshinweise der BA auch die neu gestalteten Instrumente mit Weisungen und Anregungen unterlegen. Gerade diese Hinweisflut der BA schränkt die Freiheit der Fallmanager vor Ort massiv ein. Die Notwendigkeit, die Hinweise regelmäßig zu lesen und Aktualisierungen zu berücksichtigen, bedeutet nicht nur einen erheblichen Zeitaufwand für die Fallmanager.
Ein Abweichen von den in den Hinweisen enthaltenen Vorgaben ist dem Fallmanager vor Ort ebenfalls nur theoretisch möglich. In der Praxis führen die Hinweise auch dann zur Festlegung und Einschränkung, wenn ausdrücklich Öffnungsklauseln vorgesehen sind. Das liegt nicht nur an den Hinweisen, sondern auch an der Organisationsstruktur der BA, in die die Fallmanager als Mitarbeiter einbezogen sind. Im Interesse der erwerbslosen Menschen müssen die Arbeitsagenturen vor Ort und die Fallmanager daher gegenüber der Gesamtorganisation der Arbeitsverwaltung gestärkt werden. Die Entscheidungskompetenzen der Arbeitsagenturen vor Ort müssen ausgeweitet werden, damit sie mit den kommunalen Trägern auf Augenhöhe verhandeln können.

Kostensteigerungen – Das Geld fließt in die Bürokratie und nicht zu den Menschen
Die Leistungen werden durch die Neugestaltung weiter standardisiert. Dies erfolgt zum einen über das Vergaberecht, zum anderen über konkrete Leistungsbeschreibungen, die die Kombinierbarkeit ausschließen. Eine konkrete Beschreibung von Leistungen, die die Reaktion auf alle individuellen Bedarfslagen unterschiedlicher Menschen ermöglicht, dürfte kaum möglich sein. Leistungen, die sich nicht am Bedarf des Individuums orientieren, sind zweifelhaft. Es wird nicht nur dem Menschen nicht geholfen, sondern auch Geld für etwas aufgewendet, das nur eingeschränkten Nutzen bringt. Vergabeverfahren verursachen zudem bürokratischen Aufwand. Gleiches gilt für die Definition von Leistungen und ebenso für Erläuterungen und Hinweise für die Arbeitsorganisation. Die Arbeitsverwaltung wird daher voraussichtlich auch in Zukunft gezwungen sein, sich mit der Organisation und Beschreibung von Leistungen, der internen
Kommunikation und der externen Auseinandersetzung zu befassen. Dadurch gehen Kapazitäten verloren, um sich vor Ort um den Menschen zu kümmern. Die eigentlichen Probleme – nämlich die Frage nach einer kostenträgerübergreifenden Leistungserbringung, die Trägerzuständigkeiten, die Individualisierung von Leistungen und ein angemessenes Steuerungskonzept für die Arbeitsverwaltung – bleiben ungelöst. Diese Probleme sind aber mit ursächlich dafür, dass die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung viel mit Verwaltungsfragen beschäftigt sind, die für die arbeitslosen Menschen keinen Mehrwert haben. Im Interesse aller Beteiligten – insbesondere der arbeitslosen Menschen und der Arbeitsverwaltung – sollte zunächst die Frage der Trägerstrukturen gelöst werden, um ein auf die Trägerkompetenz und die Bedarfslagen der Arbeitssuchenden abgestimmtes Gesamtkonzept von Leistungen zu entwickeln. Bundesverband der Diakonie, Dr. Bernd Schlüter, 02.10.2008)