Kein Geld trotz Schwerbehinderung: Bundesarbeitsgericht setzt Signal – Urteil

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Kommt die Information รผber eine Schwerbehinderung zu spรคt beim Arbeitgeber an, entfรคllt meist die Mรถglichkeit, eine angebliche Benachteiligung erfolgreich vor Gericht geltend zu machen. In diesem Artikel werden die Hintergrรผnde eines Urteils des Bundesarbeitsgerichts (AZ: 8 AZR 171/20) und die praktischen Konsequenzen fรผr Bewerberinnen und Bewerber aufgezeigt.

Entschรคdigung nur dann wenn Informationen zeitgerecht vorliegen

Arbeitgeber sollen Menschen mit Beeintrรคchtigungen gleiche Chancen ermรถglichen und dรผrfen sie nicht wegen einer Behinderung benachteiligen. Dafรผr gibt es gesetzliche Regelungen wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und spezielle Vorschriften im Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), die schwerbehinderten Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen.

Das Urteil des BAG ist deshalb von Bedeutung, weil es ein wichtiges Detail hervorhebt: Eine Entschรคdigung kann nur dann zugesprochen werden, wenn der Arbeitgeber zum richtigen Zeitpunkt รผber die Schwerbehinderung Bescheid weiรŸ.

Wer im Bewerbungsprozess erst sehr spรคt mitteilt, dass er oder sie schwerbehindert ist, kann sich unter Umstรคnden nicht mehr auf die besonderen Verfahrens- und Fรถrderpflichten berufen, die der Gesetzgeber zum Schutz schwerbehinderter Bewerberinnen und Bewerber eingefรผhrt hat.

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Der konkrete Fall: Was ist passiert?

Ein DiplomVerwaltungswirt (FH) mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 bewarb sich bei einer Stadtverwaltung auf eine Stelle als Leiter des Sachgebiets โ€žBauen und Wohnenโ€œ. Gefordert wurden โ€“ neben den formalen Qualifikationen โ€“ unter anderem Kommunikationsstรคrke, Fรผhrungserfahrung und Belastbarkeit.

Wichtiger Punkt: In den Bewerbungsunterlagen erwรคhnte der Bewerber nicht, dass er schwerbehindert ist. Als das Auswahlgremium die Stelle besetzte und bereits ein anderer Bewerber ausgewรคhlt war, informierte der Bewerber die Stadt รผber seine Schwerbehinderung.

An diesem Abend fand eine Stadtratssondersitzung statt, in der die endgรผltige Entscheidung fรผr den ausgewรคhlten Bewerber fiel. Kurz darauf erhielt der Klรคger die schriftliche Ablehnung.

Der Klageweg: Anspruch auf Entschรคdigung?

Der Bewerber sah sich wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert und verlangte eine finanzielle Entschรคdigung nach ยง 15 Abs. 2 AGG. Seine Argumente waren:

  1. Pflicht zur Einladung: Nach ยง 82 Satz 2 SGB IX aF mรผsse ein รถffentlicher Arbeitgeber einen schwerbehinderten, fachlich geeigneten Bewerber zu einem Vorstellungsgesprรคch einladen. In seinem Fall sei das nicht geschehen.
  2. Fachliche Eignung: Er fรผhlte sich fรผr die Stelle qualifiziert und sah keinen Grund, weshalb man ihn ausschlieรŸen sollte.
  3. Intransparenz: Er kritisierte mangelnde Informationen รผber den Fortgang des Verfahrens und den ausgewรคhlten Bewerber.
  4. Drohung: Er empfand ein spรคteres Schreiben des Arbeitgebers, in dem dieser eine Klage als โ€žmutwilligโ€œ bezeichnete, als versteckte Drohung und damit als weiteres Indiz fรผr Diskriminierung.

AuรŸerdem berief er sich hilfsweise auf mรถgliche Schadensersatzansprรผche nach ยง 823 Abs. 1 BGB und sah eine Verletzung seines Persรถnlichkeitsrechts.

Die Sicht des Arbeitgebers

Die Stadtverwaltung argumentierte, dass sie gar keine Schwerbehinderung des Klรคgers gekannt habe und dies auch nicht habe kennen kรถnnen, da die Information viel zu spรคt einging. Zum Zeitpunkt der Vorstellungsgesprรคche und erst recht bei der finalen Entscheidung sei man davon ausgegangen, dass der Bewerber nicht schwerbehindert sei.

AuรŸerdem hรคtte der Klรคger seine Behinderung direkt in den Bewerbungsunterlagen oder jedenfalls innerhalb der gesetzten Bewerbungsfrist bekannt machen mรผssen. SchlieรŸlich meinte die Stadt, dass eine Berรผcksichtigung nachtrรคglich nicht mehr zumutbar gewesen sei, weil das Auswahlverfahren bereits fast abgeschlossen war.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Sowohl das Landesarbeitsgericht Mรผnchen als auch das Bundesarbeitsgericht sahen keine Diskriminierung โ€žwegenโ€œ der Behinderung. Die Richterinnen und Richter begrรผndeten dies vor allem damit, dass die Stadt gar keine Chance hatte, die gesetzlichen Vorschriften zugunsten schwerbehinderter Bewerber zu erfรผllen, weil sie nichts von der Behinderung wusste.

Wer erst nach Abschluss der Auswahlgesprรคche oder kurz vor der endgรผltigen Beschlussfassung informiert, kann nicht erwarten, dass der Arbeitgeber sรคmtliche Verfahren nochmals von vorn aufrollt.

Kernaussage: Eine Entschรคdigung nach ยง 15 AGG kommt nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber die Behinderung rechtzeitig kennt und daher Verfahrenspflichten, wie die Einladung zu einem Vorstellungsgesprรคch, verletzen kann. Spรคter รผbermittelte Informationen reichen in der Regel nicht aus, um einen Anspruch zu begrรผnden.

Bedeutung fรผr Betroffene

Das Urteil unterstreicht den Leitsatz: โ€žZeitgerechte Mitteilung der Schwerbehinderung ist entscheidend.โ€œ Fรผr Bewerberinnen und Bewerber mit einem Grad der Behinderung bedeutet dies ganz konkret:

Offenlegung im Bewerbungsschreiben
Wer sicherstellen mรถchte, dass die Schutzvorschriften greifen (z. B. das Recht auf Einladung zu einem Vorstellungsgesprรคch im รถffentlichen Dienst), sollte die Behinderung direkt im Bewerbungsschreiben erwรคhnen oder zumindest an prominenter Stelle im Lebenslauf kennzeichnen. So sind die Arbeitgeber von Anfang an im Bilde.

Klare Fristen
Ist in der Stellenausschreibung eine Bewerbungsfrist genannt, lohnt es sich nicht, erst nach Fristende auf die Schwerbehinderung hinzuweisen. Genau diese Information lรถst diverse Pflichten aus, die nur dann eingehalten werden kรถnnen, wenn sie frรผhzeitig beim Arbeitgeber ankommen.

Sorgsame Kommunikation
Vorbehalte gegen die Offenlegung von Gesundheitsinformationen sind zwar verstรคndlich, kรถnnen aber rechtlich gesehen erhebliche Nachteile mit sich bringen. Wer seine Rechte aus dem SGB IX und AGG geltend machen mรถchte, muss dem Arbeitgeber ermรถglichen, diese Rechte รผberhaupt umzusetzen.

Hรคufige Fragen: Was sollte man wissen?

Was ist, wenn man die Behinderung nicht โ€žgleichโ€œ nennen mรถchte, weil man Nachteile befรผrchtet?
Natรผrlich kรถnnen Betroffene befรผrchten, dass eine Behinderung unbewusst Vorurteile weckt. Doch das Urteil zeigt:

Im รถffentlichen Sektor schafft die rechtzeitige Offenlegung eher Vorteile, denn nur so kann das Vorstellungsgesprรคch sicher eingefordert werden.

Darf ein Arbeitgeber nachfragen, ob eine Schwerbehinderung vorliegt?
Grundsรคtzlich mรผssen Bewerberinnen und Bewerber nur dann Auskunft รผber eine Schwerbehinderung geben, wenn sie diese selbst zur Geltendmachung bestimmter Rechte anfรผhren wollen.

Fragen, die erkennbar auf eine Diskriminierung abzielen, sind nicht erlaubt. Allerdings ist zu bedenken, dass das Nichtoffenlegen eben dazu fรผhren kann, dass Schutzrechte nicht greifen.

Was ist bei privaten Arbeitgebern anders?
Auch in Unternehmen auรŸerhalb des รถffentlichen Dienstes ist eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung verboten. Im รถffentlichen Dienst existieren jedoch spezifische Regeln (z. B. die Einladungspflicht).

Bei privaten Arbeitgebern gibt es diese Pflicht so nicht. Allerdings kann dort trotzdem eine Entschรคdigung nach dem AGG infrage kommen, wenn eine Benachteiligung nachweisbar ist.