Sanktionen, die Wahrheitspflicht und das Bundesverfassungsgericht
Kann ein Mensch, der noch vor wenigen Monaten als Abgeordneter des Bundestages seiner festen รberzeugung darรผber Ausdruck verliehen hat, dass er die derzeitige Sanktionspraxis des SGB II fรผr richtig hรคlt, unvoreingenommen darรผber urteilen, ob diese Sanktionspraxis gegen das Grundgesetz verstรถรt?
Niemand kann aus seiner Haut, besagt schon ein altes Sprichwort, trotzdem scheint Stephan Harbarth, der Vorsitzende des dafรผr zustรคndigen Ersten Senats des BVerfG, von sich selbst รผberzeugt zu sein, genau dies zu kรถnnen und im Widerspruch zu seinen persรถnlichen und politischen รberzeugungen unvoreingenommen darรผber urteilen zu kรถnnen und so der Wahrheitspflicht (ยง 26 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) zu entsprechen.
Bereits die Verhandlungsgliederung der รถffentlichen Anhรถrung vom 15.01.2019 schรผrte weitere Bedenken zur Befangenheit, denn Fragen – und Antworten – zu den vom Sozialgericht Gotha geforderten Prรผfungen der generellen Zulรคssigkeit von Sanktionen und deren Umsetzung durch Kรผrzung des Existenzminimums gab es nicht. Nach Unabhรคngigkeit und Unvoreingenommenheit sieht das gerade nicht aus.
Stattdessen drรคngt sich einem dabei unwillkรผrlich das Bild eines Kindes auf, das sich die Ohren zuhรคlt, damit es nicht hรถrt, was es nicht hรถren will.
So ergibt sich auch aus den รถffentlichen Schilderungen der Teilnehmer der Anhรถrung, dass das BVerfG hier offenbar dem schon mit der Verhandlungsgliederung aufgezeigten Grundsatz “der Zweck heiligt die Mittel” folgen mรถchte und deshalb umfangreich Sinn und Zweck von Sanktionen erรถrtert hat aber nicht die Frage, ob es รผberhaupt zulรคssig ist, das Existenzminimum zu kรผrzen. Frei nach dem schon im Rรถmischen Reich geltenden Motto: Wenn es funktioniert, ist es zulรคssig.
Dass, wie der dazu beauftragte Ulrich Karpenstein in der Anhรถrung vortrug, die Bundesregierung die bedingungslosen unverรคuรerlichen und lt. Grundgesetz auch staatlich zu garantierenden Menschenrechte von Bedingungen abhรคngig machen will, die in der Person des Schutzbedรผrftigen liegen, erinnert stark an vergangene Zeiten.
Schon seltsam: auf der einen Seite wird die Bundesregierung nicht Mรผde, immer wieder die Sippenhaftung des deutschen Volkes aufgrund der groรen Schuld durch das Hitlerregime zu thematisieren, hรคngt aber andererseits selbst menschenverachtenden ideologischen Ansichten nach, die auf eben dieses zurรผckgehen (“Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”, Franz Mรผntefering, 2006) und macht daraus sogar Rechtsnormen (ยงยง 31 bis 32 SGB II).
Statt sich รผber die Gefรคhrdung durch Parteien wie die AfD Gedanken zu machen, sollte die Bundesregierung zunรคchst darรผber nachdenken, wie sehr derartige Alt-Ideologien und Ideologen innerhalb der Regierungsparteien die innere Stabilitรคt der Gesellschaft gefรคhrden, wenn es schon wieder soweit ist, dass diese in Gesetze gegossen und รถffentlich verteidigt werden.
Das Ulrich Karpenstein sich zur Begrรผndung der Position der Bundesregierung auf eine vermeintliche Aussage des BVerfG in einem Beschluss desselben aus 1999 (1 BvR 2203/93) beruft, die es darin tatsรคchlich aber gar nicht gibt, macht die Dringlichkeit dieses Nachdenkens รผberdeutlich. Ottokar (hartz.info)