Gegen-Hartz-Interview mit der Co-Bundesvorsitzenden der LINKEN, Katja Kipping: “Aber auch diejenigen, die unser Wirken in Landesregierungen kritisch sehen, mรผssen doch letztlich zugestehen, dass wir in den vergangen zehn Jahren die einzigen waren, die sich immer wieder fรผr die Rechte von Hartz-IV-Beziehenden einsetzten.”
17.04.2013
In diesem Jahr feierte die schrรถderische Agenda 2010 ihren zweifelhaften zehnten Geburtstag. Im Zuge dessen entstanden die sogenannten Hartz IV-Gesetze, die fรผr eine bittere Unterdrรผckung und Armut fรผr Millionen von Menschen in Deutschland sorgten. Als Hartz IV eingefรผhrt wurde, fanden noch groรe Demonstrationen statt. Auch die Linke profitierte von einem enormen Stimmenzuwachs. Obwohl die Zeiten eher schlechter geworden sind, sind die Proteste gegen Hartz IV kaum noch wahrnehmbar und auch die Linke hat zum Teil enorme Stimmverluste zu verzeichnen. Wir haben bei der Co-Vorsitzenden Katja Kipping etwas genauer nachgefragt. Wie steht die Linke heute zu Hartz IV und was will sie dagegen tun?
“gegen-hartz.de”: Frau Kipping, am 14. Mรคrz jรคhrte sich die โAgenda 2010โ zum 10. mal. Bis heute sind die Hartz IV Gesetze eine gesamtgesellschaftliche Armutsfalle. Welche Bilanz ziehen Sie?
Katja Kipping: Die Bilanz ist verheerend – und das nicht nur wegen Hartz IV. Ich mรถchte das an drei Beispielen verdeutlichen, an die man nicht gleich mit der Agenda 2010 in Verbindung bringt: In der gesetzlichen Krankenversicherung sind seit der Agenda 2010 immer mehr Lasten auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abgeladen worden. Leistungen wie Brillen und Krankenfahrten wurden abgeschafft, wรคhrend die Zuzahlungen immer mehr nach oben geschraubt wurden. Insgesamt sind so seit dem Jahr 2004 insgesamt 120 Milliarden Euro auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abgeladen worden.
Ein zweites weiteres Beispiel: Zur Bilanz der Agenda 2010 gehรถrt, dass die Renten gesunken sind – fรผr langjรคhrig Versicherte durchschnittlich von 1.021 auf 953 Euro im Monat. Und Drittens sind die Reallรถhne โ das sind die Lรถhne gemessen an der Kaufkraftentwicklung โ zwischen 2005 und 2010 um 5 Prozent gesunken. Am stรคrksten betroffen sind die unteren Einkommensschichten. Die Bilanz der Agenda 2010 ist also, dass die Einkommen der รคrmeren Menschen und der mittleren Schichten gesunken und die Rechte von Erwerbslosen beschnitten wurden.
In wie weit wird โHartz IVโ fรผr die LINKE im Bundestagswahlkampf ein Thema sein?
Hartz IV, also die Frage der sozialen Mindestsicherung, wird ein zentrales Thema im Bundestagswahlkampf sein. Wir sind die Einzigen, die klar sagen: Hartz IV muss weg. Und wir sind die Einzigen, die eine klare Vorstellung davon haben, wie eine Mindestsicherung aussehen muss, die gesellschaftliche Teilhabe sichert. Vor allem werden wir deutlich machen, dass eine bessere soziale Mindestsicherung nicht nur im Interesse der Hartz-IV-Beziehenden ist. Wir werden deutlich machen, dass gerade die Angst vor dem entwรผrdigenden Hartz-IV-Bezug dazu fรผhrt, dass viele Menschen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, niedrigere Lรถhne und schlechteren Arbeitsbedingungen zustimmen. Diesen Zusammenhang herzustellen ist sehr wichtig, weil es sonst immer wieder gelingt, Menschen mit niedrigem Einkommen und Menschen, die von Hartz IV leben mรผssen, gegeneinander auszuspielen.
Aber im Entwurf des Wahlprogramms ist die Rede von einer Erhรถhung des Regelsatzes. Wie passt das Zusammen mit der Forderung โHartz-IV-muss-wegโ?
Zunรคchst einmal muss von einer schlimmen Beobachtung erzรคhlen: Insbesondere bei jรผngeren Menschen erlebe ich immer wieder, dass sie die Forderung โHartz IV muss wegโ missverstehen. Sie glauben dann, wir wรผrden den Menschen jetzt auch noch diese letzte staatliche Unterstรผtzung streichen wollen. Die Hetzkampagnen gegen Hartz-IV-Beziehende haben offenbar in den letzten zehn Jahren eine solche Wirkung erzielt hat, dass viele Menschen sich gar nicht mehr vorstellen kรถnnen, dass es PolitikerInnen und Parteien gibt, die die sozialen Rechte ausbauen wollen. Auch deshalb mรผssen wir uns darรผber Gedanken darรผber machen, wie wir die berechtigte Forderung โHartz IV muss wegโ zehn Jahre nach der Agenda 2010 zeitgemรคร formulieren.
Aber jetzt zu ihrer Frage: Um die schlimmsten Auswรผchse des Hartz-IV-Systems ganz schnell abzufedern, mรผssen die Regelsรคtze sofort auf 500 Euro angehoben werden, die Sanktionen vollstรคndig abgeschafft, der individuellen Rechtsanspruch durchsetzt und damit auch das demรผtigende Prinzip der Bedarfsgemeinschaft gestrichen werden. Auch mรผssen die Zwangsumzรผge gestoppt werden. Aber dabei soll es nicht bleiben: Letztlich wollen wir – so wie es auch unser Parteitag im Juni 2012 in Gรถttingen beschlossen hat – eine sanktionsfreie Mindestsicherung, in Hรถhe von mindestens 1.050 Euro monatlich, der aktuellen Armutsrisikogrenze. Dafรผr wollen wir in der kommenden Legislaturperiode ein Konzept erarbeiten und vorstellen. So haben wir es in unserem Wahlprogrammentwurf beschlossen. Wir kรถnnen also sagen, dass wir eine konkrete Vorstellung davon haben, wie wir Hartz IV mit einer individuellen, sanktionsfreien Mindestsicherung abschaffen. Auรerdem wird in unserer Partei auch das Grundeinkommen diskutiert, welches alle Bedรผrftigkeitsprรผfungen abschafft.
Immer wieder ist vor allen in Foren, Blogs oder sozialen Netzwerken zu lesen, dass sich Erwerbslose auch von der LINKEN im Stich gelassen fรผhlen. Vielfach wird beklagt, dass sich auch dann nichts รคndert, wenn die Partei zum Beispiel auf Lรคnderebene Regierungsverantwortung รผbernimmt. Was entgegnen Sie hier?
Ich weiร, dass viele Wรคhler und Wรคhlerinnen bei vergangenen Wahlen mit ihrer Stimme fรผr DIE LINKE die Hoffnung verbanden, dass sie mit ihrer Stimme Hartz IV wegwรคhlen. Aber Hartz IV kann nur auf Bundesebene geรคndert oder abgeschafftt werden, nicht auf Landesebene, wo wir in verschiedenen ostdeutschen Bundeslรคndern mitregierten bzw. in Brandenburg gegenwรคrtig mitregieren.
Aber: Ganz praktisch haben wir in Berlin durch eine groรzรผgige Ausfรผhrungsvorschrift zu รbernahme der Kosten der Unterkunft dafรผr gesorgt, dass Hartz-IV-Beziehende nicht so schnell zum Umzug genรถtigt wurden. Das war ein ganz konkreter Erfolg der PDS bzw. der LINKEN in Berlin und hat unzรคhlige Zwangsumzรผge in Berlin verhindert. Das zeigt, man hat auf Landesebene oder auf kommunaler Ebene Handlungsspielrรคume. Die Nutzen wir, wo wir kรถnnen.
Aber auch diejenigen, die unser Wirken in Landesregierungen kritisch sehen, mรผssen doch letztlich zugestehen, dass wir in den vergangen zehn Jahren die einzigen waren, die sich immer wieder fรผr die Rechte von Hartz-IV-Beziehenden einsetzten. Bei Umfragen und Wahlen zeigt die hohe Zustimmung bei Erwerbslosen fรผr die LINKE ja auch, dass die Menschen diese Haltung auch wahrnehmen und anerkennen.
Wie engagiert sich die Partei neben der parlamentarischen Arbeit gegen Hartz IV?
Wir haben als Partei die Aktion โDIE LINKE Hilftโ gegrรผndet. In fast einhundert Orten bieten wir verteilt รผber das ganze Land Beratungen an. Ein Angebot, dass von vielen Menschen angenommen wird. Die konkreten Adressen befinden sich auf der Website der Partei unter “www.die-linke.de”. Ansonsten versuchen wir die Selbstorganisation von Betroffenen zu stรคrken. Ein wichtige Arbeit leisten da die verschiedenen Arbeitsgemeinschaften zu Hartz-IV. Die gibt es auf allen Ebenen der Partei.
Es scheint, als habe sich die SPD zahlreicher Programmatiken der LINKEN bedient. Warum sollte es dennoch wichtig sein, die LINKE zu wรคhlen?
Naja, selbst das Abschreiben gelingt der SPD nicht wirklich รผberzeugend. Aber die Beobachtung stimmt schon: Die SPD redet sozialer. Aber wir wissen ja auch: Vor der Wahl blinkt sie gerne links, um dann nach der Wahl verkehrswidrig rechts abzubiegen. Aber das ist durchschaubar. Dass die SPD es nicht wirklich ernst meint, zeigt ja schon die Wahl ihres Kanzlerkandidaten. Peer Steinbrรผck gehรถrt zu den entschiedensten Befรผrwortern der Agenda 2010. Und der soll jetzt fรผr eine soziale Wende in der SPD stehen? Wer wirklich eine soziale Politik will, sollte deshalb uns die Stimme geben. Und diese Stimme wirkt auch. Ich will auch das an zwei Beispielen erlรคutern: Als wir vor gut zehn Jahren den Mindestlohn forderten, waren alle anderen Parteien und sogar Teile der Gewerkschaften dagegen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der flรคchendeckende Mindestlohn kommt. Im Bundesrat gibt es dafรผr schon eine Mehrheit. Ein anderes Beispiel ist die Praxisgebรผhr. Seit sie eingefรผhrt wurde, haben wir dagegen opponiert. Mit Antrรคgen im Parlament, mit Aktionen vor Arztpraxen und auf รถffentlichen Plรคtzen. Das zeigt, mit einer konsequenten Haltung kann man manchmal mehr erreichen, als mit einer Regierungsbeteiligung.
Bei den letzten Landtagswahlen musste die LINKE vor allem Stimmen an die โNichtwรคhlerโ abgegeben. Was meinen Sie, warum ziehen sich so viele Menschen wieder enttรคuscht zurรผck?
Wussten Sie, dass es einen statistischen Zusammenhang zwischen der Hรถhe der Wahlbeteiligung und dem Ausbau des Sozialstaates gibt? Ich mรถchte kurz erklรคren, warum das so ist. Aus der Wahlforschung wissen wir, dass Menschen die รคrmer sind oder von Erwerbslosigkeit betroffen sind, sich รผberdurchschnittlich der Wahl enthalten. Wahrscheinlich weil sie denken, dass die Politik auf ihre Interessen sowieso nicht mehr eingeht. Aber wissen sie wozu das fรผhrt? Die Parteien kรผmmern sich dann auch nicht mehr um deren anliegen, weil sie ja als Wรคhler nicht mehr so stark in Erscheinung treten. Die Folge ist, dass der Sozialstaat noch weiter abgebaut wird. Damit wiederum erfรผllt sich die Erwartung derjenigen, die sich der Wahl enthalten haben. Deshalb kann ich nur allen raten, die รผberlegen nicht zur Wahl zu gehen: Durchbrechen sie diesen Kreislauf, gehen sie wรคhlen.
Aber sie haben ja gefragt, was DIE LINKE konkret tun wird. Vor allem werden wir soziale Themen, Hartz IV, Armut im Alter, Erwerbslosigkeit, Niedriglรถhne in den Vordergrund rรผcken. Und letztlich glaube ich, dass am Wahltag viele Menschen erkennen werden, dass wir in diesen Fragen immer glaubwรผrdig waren und wir deshalb wieder ein achtbares Ergebnis erzielen werden.
Kรคme bei entsprechendem Bundestagsergebnis Ihrer Meinung auch eine Rot-Rot-Grรผne Bundesregierung in Frage? Welche Inhalte wรผrden Sie dafรผr aufgeben?
Also eine rot-rot-grรผne Regierung ist ja schon sehr unwahrscheinlich. Schlieรlich wollen Steinbrรผck und Gabriel eher mit der FDP als mit uns regieren. Ich finde, dass sagt รผbrigens auch schon viel darรผber aus, wie ernst ihnen ihre sozialen Anliegen eigentlich sind. Sollte es aber dennoch zu Gesprรคchen รผber Rot-Rot-Grรผn kommen, werden wir keine Inhalte fรผr eine Regierungsbeteiligung aufgeben. Aber natรผrlich wรผrden wir Kompromisse austesten. Dabei ist aber wichtig, dass die Richtung der Kompromisse immer stimmt und dass es Punkte gibt, die nicht verhandelbar sind. Dazu gehรถren fรผr uns soziale Fragen wie die Einfรผhrung eines Mindestlohnes oder einer Mindesrente, die dazu fรผhrt, dass niemand mehr von Armut bedroht ist. Auch die Frage von Krieg und Frieden entzieht sich der Logik von Kompromissen. Der Export von Rรผstungsgรผtern mรผsste beendet werden. Beim Thema Hartz IV kann ich mir beispielsweise eine Regierungsbeteiligung ohne die Abschaffung des Hartz-IV-Sanktionssystems nicht vorstellen.
Aber fรผr uns ist die Regierungsfrage nicht zentral. Viel wichtiger ist, dass durch die Bundestagswahl die soziale Frage durch eine starke Bundestagsfraktion der LINKEN auf der Tagesordnung bleibt und รrmere eine Stimme im Parlament haben. โ100% sozialโ – das Motto unseres Wahlprogrammentwurfs – muss als Anspruch in die Politik getragen werden. Nur mit einer Stimme fรผr die LINKE wird es dazu kommen, dass auch die anderen Parteien ihren sozialeren Reden, soziale Taten folgen lassen. (Bei Angabe der Quelle Abdruck frei)