Cornelia Funke hat recht: Kinder haben in Deutschland keine Lobby
01.01.2013
Gedanken über Bundespräsident Gauck, Kardinal Marx, Familienministerin Schröder, den Deut- schen Kinderschutzbund, den Verband alleinerziehender Mütter und Väter, die Caritas, den Katholikenrat, Manfred Lütz und das Bundesverfassungsgericht zum Jahresausklang 2012 von Hartz 4-Plattform-Sprecherin Brigitte Vallenthin.
Cornelia Funke wurde in einer der zahlreichen Talkshows anlässlich der Vorstellung ihres neuen Buches gefragt, warum eigentlich Ihr Name – als mittlerweile in 35 Sprachen übersetzte Kinder- und Jugendbuch-Autorin – in den amerikanischen Medien weit früher und nachhaltiger Bekanntheit erlangte als in ihrer Heimat Deutschland. Sie antwortete: „Kinder haben in Deutschland keine Lobby“.
Das war auch meine erschreckende Erkenntnis im Jahre 2012, das unserer Bürgerinitiative Hartz4-Plattform insbesondere dem Kampf gegen Diskriminierung und Chancen-Ungerechtigkeit von Kindern durch das sogenannte Bildungspaket widmete. Dabei hat sich die Entwicklung zum zweitältesten Land der Welt1) bereits seit Jahrzehnten abgezeichnet: Alleinerziehende können sich für ihre Kinder kaum mehr das Nötigste leisten – und gut Ausgebildete mit Karriereabsichten leisten sich kaum mehr Kinder.
Deutsche Politiker, Kirchenvertreter und andere als Meinungsführer bezeichnete Persön- lichkeiten und Organisationen schmücken sich zwar gerne mit Kindern. Immerhin sind die noch immer ihre erfolgreichsten Helfer für Imagebildung und Mehrheitsbeschaffung. Dann hört sie aber auch schon auf die geheuchelte „Liebe“ zu Kindern. Jeder weiß es: es geht in Wahrheit nämlich zu allerletzt um die Kinder. Statistiken und ungezählte Studien bestätigen das längst. Dabei könnte man das Geld für teure Wissenschaftler und Behördenmoloche – nicht nur wegen der Überflüssigkeit von Wiederholungen des bereits Bekannten – ohne den geringsten Erkenntnisverlust besser den Kindern selber zugute kommen lassen.
Weihnachten war wieder mal so ein fixes Datum fürs Kinder-Thema:
Am ehrlichsten war dabei noch der Freiheit-(wofür eigentlich?)-Bundespräsident Joachim Gauck: Dem waren in seiner Weihnachtsansprache die Kinder noch nicht einmal ein einziges Wort wert. Zwar titelte ‘welt.de’: „Gauck setzt neue Maßstäbe“ und es gehe ihm um „Zuwendung, Solidarität und Liebe.“
Doch wer glaubte, dass diese drei Worte zuallererst denen gelten sollten, die die Welt nach uns hoffentlich in Frieden weiter tragen werden – den Kindern -, der irrte. Die ersten, die er anlässlich des weihnachtlichen Friedensfestes gedachte waren die von fehlgeleiteter Politik zum Krieg in Afghanistan verführten Soldaten. Keine Würdigung beispielsweise der schier unlösbaren Sorgen und Nöte von Alleinerziehenden oder armen Eltern. Und der am Schluss seiner Ansprache bemühte „Stern von Bethlehem“ führte das Staatsoberhaupt weder zu fehlenden Krippenplätzen noch zu aussichtslosen Bildungschancen.
In seiner Predigt zum Weihnachtsfest appellierte der Münchner Kardinal Marx an ein „Ja-Wort zu Kindern“. Er bemühte im Zusammenhang mit sinkenden Geburtenraten laut ‘sueddeutsche.de’ sogar das Allzweck-Unwort „Nachhaltigkeit“. In Verharmlosung notwendiger gesellschaftlicher Rahmenbedingung durch die Familienpolitik verkündete er mit maximaler Realitätsferne: „Wir brauchen eine Wende in den Herzen und Köpfen aller, um neue Lust auf Leben zu entdecken".
Vielleicht hätte der Kirchenmann sich vor solchen Kanzelworten – die bei vielen als Diskriminierung ankommen müssen – doch besser erst einmal in die Niederungen unserer gespaltenen Gesellschaft begeben sollen, um zu erkennen, dass die deutsche Wirklichkeit inzwischen Bedingungen geschaffen hat, die Lust auf Leben weitgehend zerstört hat.
Dann waren da noch die vorweihnachtlichen Geistes- und Kultur-Verirrungen von Familienministerin Kristina Schröder. Die zensierte erst einmal Texte von in Jahrhunderten überlieferten und den Brüdern Grimm gesammelten Märchen. Der politische Meister-Propper-Scheuereifer der Mutter einer 1 ½-jährigen Tochter – die sich gar nicht erst auf die Mühen des Umweges über die Lebenswirklichkeit in dem Lande gemacht hat, das sie nunmehr regierungsamtlich bevormunden will, sondern gleich via Roland-Koch-Parteikarriere 32-jährig ins Ministeramt hinein die Niederungen des Alltags mal eben übersprungen hat – machte auch nicht halt vor Kinderbuchliteratur: Pipi Langstrumpf will sie beispielsweise von „Negerkönig“ und „Negerprinzessin“ reinigen. Wen wundert, dass in einem dergestalt geleiteten Ministerium nur irregeleitete Gesetze geboren werden.
Auch aus dem Bundesverfassungsgericht kam 2012 Kinderfeindliches. Die Beschwerde gegen die Verfassungsfeindlichkeit des sogenannten Bildungspakets, die sich gegen die Diskriminierung und Einschränkung von Bildungschancen von Kindern im Hartz IV-Bezug richtete, wurde gemäß einer Entscheidung der Drei-Richter-Kammer des ersten Senats durch die Bundesverfassungsrichter Kirchhoff, Schluckebier und Baer im Eilverfahren und ganz im Sinne der Politik nicht zur Entscheidung angenommen.
Da stellt sich die Frage, ob die drei Richter – zwei von ihnen kinderlos – eine wirkliche Vorstellung davon haben, welche ausgrenzenden Folgen diese Ablehnung der Eilbedürftigkeit von Chancengerechtigkeit für Millionen von Kindern in Deutschland hat. Um es mit Manfred Lütz zu sagen: „im Kosmos der gefälschten Welt“ 2) von Paragrafen scheint die Wirklichkeit „des eigentlichen Lebens“ verloren gegangen zu sein.
Dabei hätte das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ihnen eine eilige Entscheidung zugunsten der Kinder erlaubt – was andererseits der Politik wohl nicht gefallen hätte.
Ebenfalls in künstlichen Welten scheinen sich die sogenannten Kinder-Lobby-Organisationen Deutscher Kinderschutzbund (DKSB) und Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) zu bewegen. Sie hatten – ganz im Sinne der mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen verfassungswidrigen Diskriminierung armer Kinder – eindrucksvolle, kritische Stellungnahmen dazu vor der Verabschiedung des neuen Hartz IV-Gesetzes verfasst. Dass die zuständige Ministerin diese noch nicht einmal pflichtgemäß in der Bundestagsdrucksache veröffentlicht du nicht zum Gegenstand der öffentlichen Anhörung gemacht hat, war ihnen keine einzige Empörung wert. Ausdrücklich empört aber hat sich jedoch einer der Verbände, als die Beschwerdeführer ihn als sachverständigen Zeugen vor Gericht benannt haben; der andere hat sich in öffentliches Schweigen gehüllt.
Bei Caritas und Katholikenrat hatte man 2012 ebenfalls den Eindruck, als würden nicht mehr zwischen künstlichen und echten Welten unterschieden: Das öffentliche Lob der Hartz4-Plattform für einen „Offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten des Rheinisch-Bergischen Kreises“, der die Bitte enthielt, sich für Gesetzesänderungen beim Bildungspaket im Sinne des Abbaus der verfassungswidrigen Diskriminierungen und des grundsätzlichen Misstrauens gegen arme Familien einzusetzen, wurde mit der Androhung einer „Unterlassungsklage“ erwidert. Mutmaßlich war unsere Arbeitslosen-Bürgerinitiative den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Bosbach (CDU) und Christian Lindner (FDP) zu schmerzhaft auf die Füße getreten.
Vielleicht sollten wir doch eher die Mahnung von Manfred Lütz (3) ernst nehmen, uns nicht „von der Wirklichkeitsmacht“ der künstlichen -Welten „einschüchtern lassen“, indem wir „große Teile unseres Lebens in künstlichen Welten verbringen“ – wie beispielsweise der Wissenschaftswelt, der Medienwelt, der Internetwelt, der Finanzwelt, der Smartphonewelt und der Paragrafenwelt -, damit wir nicht „unser eigentliches Leben, unser existenzielles Leben verpassen.“
Lützs Ermutigung, ein „eigenes Leben zu leben“ könnte ein Hinweis sein. Sind wir überhaupt darauf angewiesen, auf die zu hoffen, die der Spaltung unserer Gesellschaft eher Vorschub leisteten als sie zu verhindern? Da erinnere ich mich an ein afrikanische Sprichwort: „Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern." (Brigitte Vallenthin, Hartz-4-Plattform)
Anhang:
1) Nach Japan an zweiter Stelle der Länder mit den wenigsten Menschen unter 15 Jahren
2) Manfred Lütz, „Bluff! – Die Fälschung der Welt“
3) Interview mit Manfred Lütz, welt.de
Bild: Peter Feldnick / pixelio.de
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