Hartz IV: Betrug bei den ALG II Unterkunftskosten

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Hartz IV: werden ALG II Empfänger um ihre Unterkunftskosten betrogen? Nach dem derzeitigen Informationsstand kann man sagen: Ja, viele!

Vorwort
Bei der Beurteilung, ob die Kosten für eine Unterkunft angemessen sind, ist im Rahmen einer abstrakten Angemessenheitsprüfung zu ermitteln, welche Kosten der Unterkunft, gemeint ist hierbei konkret die Kaltmiete, für einen Hilfebedürftigen am konkreten Wohnort abstrakt angemessen sind. Hierbei ist die sog. Produkttheorie anzuwenden und eine individuelle Prüfung des Einzelfalles durchzuführen.

Für die Angemessenheit der tatsächlichen Aufwendungen für eine Unterkunft kommt es damit nicht auf individuelle Merkmale der tatsächlich bewohnten Wohnung an. Eine Festlegung der nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung allein anhand des Baujahres oder der Größe der konkreten Wohnung widerspricht ebenso der Produkttheorie, wie die Bildung einer Warmmiete als Angemessenheitskriterium. Auch die weit verbreitete Pauschalierung der Neben- und Heizkosten ist rechtswidrig, da diese Kosten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Leistungsträger in tatsächlicher Höhe zu zahlen sind, wenn sie angemessenen sind.

Wie kommt es nun dazu, dass ALG II Bezieher Teile ihrer Kaltmiete, der Neben- und Heizkosten aus ihrem Regelsatz zahlen müssen?
Bereits am 07 November 06 hat das Bundessozialgericht in zwei Grundsatzurteilen, B 7b AS 10/06 R und B 7b AS 18/06 R, ausführlich klargestellt, wie der Leistungsträger die Angemessenheit dieser Kosten zu ermitteln und zu beurteilen hat. In seinem Beschluss vom 16.Mai 07, AZ: B 7b AS 40/06 R, hat das BSG zudem klargestellt, dass Heizkosten wie Nebenkosten immer in tatsächlicher Höhe zu übernehmen sind. Nur leider halten sich die wenigsten Leistungsträger an diese Rechtsnormen. Warum? Weil die Kommunen für die Unterkunftskosten plus Heizung zuständig sind und diese zum größte Teil selbst zahlen müssen.
Und statt den vom BSG festgelegten Rechtsnormen zu folgen, legen die Kommunen die Beträge für angemessene Unterkunftskosten willkürlich aus reinen Kostengesichtspunkten fest oder wenden Kriterien bewusst falsch an.

Wie hat das Amt nun gemäß den o.g. BSG-Urteilen die angemessenen Kosten für Unterkunft, Neben- und Heizkosten zu ermitteln und festzulegen?
Lt. BSG muss hier die sog. Produkttheorie angewendet werden. Dazu muss das Amt in einem ersten Schritt einen Mietspiegel des örtlichen Wohnungsmarktes des Wohnortes des Betroffenen für Wohnraum einfacher (nicht einfachster!) Ausstattung und Lage erstellen, sofern ein solcher aktuell nicht zur Verfügung steht.

Hierbei machen viele Leistungsträger den Fehler, stattdessen Durchschnittsmieten von mehreren Orten oder sogar ganzen Landkreisen bilden und die Höhe der angemessenen Kosten so künstlich herunterrechnen. Oder es werden wegen fehlender Mietspiegel irgendwelche Werte angesetzt, die mit dem Kommunalhaushalt harmonieren.

Die Folgen: zu den so festgelegten Kaltmieten sind für Betroffene in ihrem Wohnort tatsächlich keine Wohnungen zu bekommen, sie müssen die Mehrkosten aus ihrem Regelsatz zahlen oder – obwohl rechtswidrig, denn auch ein ALG II Bezieher hat das grundsätzliche Recht zum Verbleib in seinem sozialen Umfeld, so das BSG – in einen Ort mit billigerem Wohnraum ziehen.

Im zweiten Schritt ist nach der Produkttheorie aus der Quadratmeterkaltmiete dieses Mietspiegels ein Produkt zu bilden, indem diese mit der Wohnungsgröße, die den jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften des sozialen Wohnungsbaues zu entnehmen ist, multipliziert wird. Der daraus entstehende Betrag ist lt. BSG die angemessene Kaltmiete. Hierbei machen viele Leistungsträger den Fehler, dass sie stattdessen eine Wohnungsgröße und eine Quadratmetermiete vorgeben und darauf bestehen, dass beide Kriterien zutreffen müssen.

Die Folgen: bereits bei geringfügiger Überschreitung der Wohnungsgröße oder Kaltmiete werden Unterkunftskosten gekürzt oder der Bezug von Wohnungen verweigert, obwohl diese nach der Produkttheorie angemessen wären. Betroffene können dann solche Wohnungen nicht beziehen oder müssen die Mehrkosten aus dem Regelsatz zahlen, oder erhalten Mitteilungen zur angeblichen Unangemessenheit ihrer Unterkunftskosten, die bei Anwendung der Produkttheorie gar nicht erfolgen würden, und müssen in Ermangelung passenden Wohnraumes zu diesen Mehrfachkriterien die Mehrkosten aus ihrem Regelsatz zahlen.

In einem dritten Schritt muss der Leistungsträger prüfen, ob es dem Betroffenen tatsächlich möglich ist, seine Kosten zu senken. Ist dies nicht möglich, muss der Leistungsträger die bisherigen Kosten als Angemessen weiter zahlen. Hier führen viele der Leistungsträger entweder gar keine Prüfung durch, oder verlangen – wie schon ausgeführt rechtswidrig – einen Umzug in einen anderen Ort mit einem kostengünstigeren Wohnungsmarkt.

Die Folgen: Betroffen werden zur Kostensenkung aufgefordert, obwohl eine solche tatsächlich gar nicht möglich ist, oder werden sogar gezwungen, ihren Wohnort zu wechseln.

In einem vierten Schritt muss der Leistungsträger prüfen, ob es tatsächlich wirtschaftlich ist, vom Betroffenen einen Umzug zu fordern. D.h. er muss prüfen, ob die Kosteneinsparung durch den Umzug gegenüber den Umzugs- und Wohnungsbeschaffungskosten und den Kosten der neuen Wohnung tatsächlich gegeben ist. Ist die Kosteneinsparung nur gering, können die Umzugs- und Wohnungsbeschaffungskosten dazu führen, dass ein Umzug für den Leistungsträger unwirtschaftlich wäre. Auch in diesem Fall muss der Leistungsträger die bisherigen Kosten als Angemessen weiter zahlen. Dabei muss der Leistungsträger insbesondere beachten, dass sich durch bauliche Unterschiede zwischen den Wohnungen erhebliche Unterschiede in den Heizkosten ergeben können. So sind bei Wohnungen ohne Wärmedämmung durch den Leistungsträger regelmäßig erheblich höhere Heizkosten zu zahlen, als bei Wohnungen mit moderner Wärmedämmung. Dies wird jedoch oft genug nicht beachtet und der Leistungsträger weigert sich dann nach einem von ihm verlangten Umzug, diese höheren Heizkosten zu zahlen.

Die Folgen: Hartz IV Betroffene müssen vollkommen unnötig umziehen, obwohl die Kosten der neuen Wohnung insgesamt gesehen höher sind als die der alten, und dann oft Kosten, welche eigentlich der Leistungsträger zu zahlen hat, aus ihrem Regelsatz zahlen.

Und was ist mit den Neben- und Heizkosten?
Bei der Beurteilung und Festlegung der Neben- und Heizkosten machen fast alle Leistungsträger einen gravierenden Fehler, indem sie statt den tatsächlichen Kosten nur Pauschalen bezahlen und bei Überschreitung dieser Pauschalen Nachzahlungen verweigern.

Wie das BSG in seinem Beschluss vom 16 Mai 07, B 7b AS 40/06 R, klargestellt hat, sind Heizkosten immer in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, die bloße Zahlung von Pauschalen ist rechtswidrig. Darin folgt das BSG, wie bereits bei den anderen o.g. Urteilen, der ständigen Rechtsprechung der Sozial- und Landessozialgerichte, welche auch regelmäßig urteilen, dass diese Kostenübernahmepflicht ebenfalls für die Nebenkosten gilt.

In Verbindung mit dem vom BSG in den bereits o.g. Urteilen aufgestellten Leitsatz zu den Unterkunftskosten im allgemeinen: dass es im Endeffekt darauf ankommt, dass es dem Betroffenen tatsächlich möglich sein muss, seine vom Leistungsträger abstrakt als unangemessen beanstandeten Kosten zu senken; ergibt sich für die Neben- und Heizkosten folgendes:
da es dem Betroffenen innerhalb eines Wohnungsmarktes regelmäßig nicht möglich sein wird, die vom Vermieter auf der Basis der Betriebskostenverordnung auf den Mieter umgelegten verbrauchsunabhängigen Kosten zu senken, und der Betroffene das Recht hat, in seinem sozialen Umfeld zu verbleiben, muss der Leistungsträger diese Kosten immer in tatsächlicher Höhe übernehmen. Etwas anderes gilt nur für die verbrauchsabhängigen Kosten, bei diesen muss der Leistungsträger konkret und individuell prüfen, ob der Verbrauch angemessen ist. Soweit auch die ständige Rechtsprechung der Sozial- und Landessozialgerichte.

Kosten, deren Verbrauch der Betroffene beeinflussen kann, sind die Kosten für Wasser und Abwasser, Müll und Heizung.
Für Wasser und Abwasser gibt es sowohl bundesweite als auch örtliche statistische Daten, welche die Angemessenheit des Verbrauches eines Haushaltes auf der Basis der Personenzahl abstrakt widerspiegeln. Auch hier muss vom Leistungsträger, falls erforderlich, dann individuell geprüft werden, ob Umstände vorliegen, die einen Höheren als den Durchschnittsverbrauch rechtfertigen Bei Müll ist i.d.R. ein Grundbetrag mit Mindestentleerungen zu bezahlen, der sich am durchschnittlichen Bedarf orientiert und nicht gesenkt werden kann. Ansonsten kann man ebenfalls vergleichbare Haushalte am Ort des Betroffenen als Maßstab heranziehen.Bei den Heizkosten ist diese individuelle Prüfung am aufwändigsten, weshalb hier von den Leistungsträgern auch die meisten Fehler gemacht werden.

Bei den Heizkosten ist der Verbrauch in erheblichem Maße von der Art der Wärmedämmung des Gebäudes abhängig, die individuellen Heizgewohnheiten sind dagegen meist zweitrangig. Ein nicht oder schlecht isoliertes Gebäude hat durchaus einen bis zu drei Mal höheren Wärmeenergiebedarf als ein Gebäude mit ordentlicher Wärmeisolierung. Das bedingt erhebliche Kostenunterschiede von mehreren hundert Euro im Jahr. Gerade die Billigwohnungen mit niedriger Kaltmiete haben meist keine oder nur mangelhafte Wärmeisolierung und bedingen enorme Heizkosten. Ebenfalls deutliche Preisunterscheide gibt es bei der Art des verwendeten Brennstoffes. Auch hierauf hat der Betroffene keinerlei Einfluss.

Hinzu kommt, dass Aufgrund der meist nicht erkennbaren baulichen Unterschiede eine Beurteilung des Wärmeenergiebedarfes einer Wohnung durch den Leistungsträger i.d.R. unmöglich ist, da hier nur qualifiziertes Fachpersonal in der Lage ist, die dazu nötigen Untersuchungen und Berechnungen vorzunehmen. Da der Leistungsträger, nach anerkannter bundesweit einheitlicher Rechtsprechung, verpflichtet ist, die Angemessenheit dieser Kosten immer unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten zu beurteilen, können deshalb in ein und demselben Ort sowohl eine Wohnung ohne Wärmeisolierung mit 1700€ Heizkosten im Jahr als auch eine gleich große Wohnung mit guter Wärmeisolierung und 700€ Heizkosten im Jahr individuell angemessen sein.
Aber auch durch krankheitsbedingten Wasser- oder Wärmemehrbedarf können sich individuell höhere angemessene Bedarfe ergeben. Obwohl sich bei den Betroffenen der Verbrauch gegenüber den Vorjahren nicht erhöht hat, verweigern mittlerweile viele Leistungsträger die Übernahme der tatsächlichen Heizkostennachzahlungen, deren Höhe allein in der fortgesetzten massiven Energiepreissteigerung begründet liegt. Betroffene sind so gezwungen, diese Mehrkosten aus ihrem Regelsatz zu zahlen oder ihr Recht einzuklagen.

Nicht vorenthalten möchte ich die Information, dass der Gesetzgeber in § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II tatsächlich gar keine Kostensenkung für Heizkosten vorsieht. Das hat der Gesetzgeber, wie einige behaupten, nicht einfach vergessen, denn dann hätte er dies schon längst bei einer der zahlreichen Änderungen des SGB II ergänzt, wie er es bei anderen Festlegungen tat, sondern hier trägt der Gesetzgeber ganz offensichtlich dem Umstand Rechnung, dass es einem Leistungsträger Aufgrund der Vielzahl der dabei zu berücksichtigenden einzelnen Kriterien i.d.R. unmöglich sein wird, erfolgreich zu prüfen, ob der jeweilige Heizenergieverbrauch individuell angemessen ist.

Aus all diesen Gründen hat sich in der Rechtsprechung bundesweit einheitlich durchgesetzt, dass der Leistungsträger verpflichtet ist, die tatsächlichen Kosten für Neben- und Heizkosten zu zahlen, wenn er dem Betroffenen nicht konkret unwirtschaftliches Verhalten – also Mehrkosten durch zu hohen und individuell nicht gerechtfertigten Verbrauch – nachweisen kann.

Warmwasserkosten
Ergänzen möchte ich an dieser Stelle den Beschluss des BSG vom 27 Februar 08, Az. B 14/11b AS 15/07 R. Danach darf der Leistungsträger von den Heizkosten, die der Vermieter abrechnet, nur den im Regelsatz enthaltenen Betrag für Warmwasserkosten abziehen, sofern letzterer in den Heizkosten enthalten ist. Eine, wie auch immer geartete, andere Berechnung ist rechtswidrig, insbesondere die nach § 9 Heizkostenverordnung. Dabei ist es vollkommen unerheblich, wer diese rechnerische Herleitung vornimmt: ob der Leistungsträger oder die Abrechnungsfirma des Vermieters. Nur wenn der tatsächliche Heizkostenbedarf für Warmwasser messtechnisch erfasst wird, was in Deutschland vollkommen unüblich ist, dürfen die so nachgewiesenen tatsächlichen Warmwasserkosten angesetzt werden. Soweit das Bundessozialgericht.

Damit ergeben sich folgende Faustformeln:

angemessene Kaltmiete = [die nach Personenzahl zulässige Wohnungsgröße lt. landesrechtlichen Vorschriften des soziale Wohnungsbaues] multipliziert mit [die am Wohnort übliche durchschnittliche Quadratmeterkaltmiete für diese Wohnungen mit einfacher Ausstattung]

angemessene Nebenkosten = tatsächliche Nebenkosten, wenn diese ortsüblich sind und nicht auf nachgewiesenem unwirtschaftlichem Verhalten des Betroffenen beruhen

angemessene Heizkosten = tatsächliche Heizkosten, wenn diese nicht auf nachgewiesenem unwirtschaftlichem Verhalten des Betroffenen beruhen

Bundesweit werden von den Leistungsträgern jedes Jahr erfolgreich vermutlich hunderttausende Nachzahlungen von Neben- und Heizkosten rechtswidrig verweigert und vermutlich ebenso viele Neben- und Heizkosten rechtswidrig pauschaliert – weil Betroffene ihre Rechte nicht kennen oder sich scheuen, diese einzufordern. Das spart den Kommunen jährlich etliche Millionen an Kosten, welche die Betroffenen gezwungen sind, rechtswidrig aus ihrem ALG II Regelsatz an Versorger und Vermieter zu zahlen.

Diesen Betroffenen können wir nur raten: die Übernahme der tatsächlichen Kosten von ihrem Leistungsträger einzufordern und falls erforderlich einzuklagen, wenn der Leistungsträger sich nicht an die vom BSG vorgegebenen Grundlagen hält; Auf- forderungen zur Kostensenkung genau zu prüfen und gegebenenfalls durch eifriges Sammeln von geeigneten Beweisen nachzuweisen, dass ihnen eine Kostensenkung tatsächlich gar nicht möglich ist; die Angemessenheitskriterien ihres Leistungsträgers für die Unterkunftskosten und deren Anwendung genau zu prüfen und gegebenenfalls beim Sozialgericht für rechtswidrig erklären zu lassen. (28.07.2008)