Schwerbehinderte Menschen dürfen im Bewerbungsprozess nicht benachteiligt werden. Diese grundlegende Feststellung hat das Verwaltungsgericht Mainz in einem aktuellen Urteil getroffen.
Eine schwerbehinderte Bewerberin erhielt eine Entschädigung, weil sie von einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, obwohl ihre fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlte.
Inhaltsverzeichnis
Hintergrund des Falls
Die Klägerin, Jahrgang 1984 und mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50, bewarb sich auf mehrere von einer Verwaltungsbehörde ausgeschriebene Stellen als Bürosachbearbeiterin.
Die Stellen sollten zum 1. November 2020 besetzt werden und boten die Möglichkeit einer Einstellung in ein Beamtenverhältnis des mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienstes.
Anforderungen der Stellenausschreibung
Die Stellenausschreibung forderte als Bildungsvoraussetzungen einen Realschulabschluss oder einen Hauptschulabschluss mit abgeschlossener Berufsausbildung.
Unter den “Sonstigen Voraussetzungen” wurden entweder die Laufbahnbefähigung für den mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst oder eine abgeschlossene Berufsausbildung in bestimmten kaufmännischen Berufen verlangt. Dazu zählten unter anderem:
- Verwaltungsfachangestellte/r (Bund, Land, Kommune)
- Rechtsanwalts- und/oder Notarfachangestellte/r
- Steuerfachangestellte/r
- Justizfachangestellte/r
- Fachangestellte/r für Arbeitsmarktdienstleistungen
- Sozialversicherungsfachangestellte/r
- Kauffrau/Kaufmann (alle Fachrichtungen, mindestens dreijährige Ausbildung)
Zusätzlich wurde der Nachweis einer vergleichbaren hauptberuflichen Tätigkeit von mindestens 18 Monaten gefordert.
Die Bewerbung der Klägerin
Die Klägerin verfügt über die Fachhochschulreife im Fachbereich Wirtschaft und Verwaltung sowie über eine dreijährige Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie. In ihrem Lebenslauf wies sie auf ihre Schwerbehinderung hin und führte relevante Berufserfahrungen auf, darunter Tätigkeiten als Service Professional für Gepäckermittlung und als Professional Office bei einer Fluggesellschaft.
Ablehnung durch die Beklagte
Die Verwaltungsbehörde lehnte die Bewerbung der Klägerin ab und teilte ihr mit, dass sie nicht berücksichtigt werden könne, da sie die erforderliche berufliche Qualifikation nicht nachweise. Insbesondere fehle ihr die geforderte Ausbildung als Kauffrau.
Die Beklagte argumentierte, dass die Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie keine kaufmännische Ausbildung im Sinne der Stellenausschreibung sei und nicht die relevanten kaufmännischen Inhalte vermittle.
Klage vor dem Verwaltungsgericht
Die Klägerin fühlte sich aufgrund ihrer Schwerbehinderung benachteiligt und klagte auf Zahlung einer Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Sie machte geltend, dass ihre Ausbildung sehr wohl als kaufmännische Ausbildung anerkannt sei und sie die fachlichen Voraussetzungen für die Stelle erfülle.
Argumentation der Klägerin
- Kaufmännische Ausbildung: Die Klägerin wies darauf hin, dass die Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie von Industrie- und Handelskammern als kaufmännische Ausbildung angesehen wird.
- Berufserfahrung: Sie verwies auf ihre einschlägige Berufserfahrung in kaufmännischen und organisatorischen Tätigkeiten.
Pflicht zur Einladung: Gemäß § 165 Satz 3 SGB IX seien Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, sofern die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehle.
Entscheidung des Verwaltungsgerichts Mainz
Das Verwaltungsgericht gab der Klägerin recht und verurteilte die Beklagte zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe eines Bruttomonatsgehalts der ausgeschriebenen Stelle, also 2.417,74 Euro.
Begründung des Urteils
Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot: Die Beklagte habe gegen § 7 Abs. 1 AGG verstoßen, indem sie die Klägerin nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen habe.
- Fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlend: Die Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie sei als kaufmännische Ausbildung anzusehen. Der formale Aspekt der Berufsbezeichnung trete hinter den tatsächlichen Ausbildungsinhalten zurück.
- Pflicht zur Einladung: Da die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlte, hätte die Beklagte die Klägerin gemäß § 165 Satz 3 SGB IX zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen.
- Vermutung der Benachteiligung: Die unterlassene Einladung begründet die Vermutung, dass die Klägerin wegen ihrer Behinderung benachteiligt wurde (§ 22 AGG). Die Beklagte konnte diese Vermutung nicht widerlegen.
Auswirkungen des Urteils
Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen für Arbeitgeber, insbesondere im öffentlichen Dienst. Es betont die Pflicht zur diskriminierungsfreien Behandlung schwerbehinderter Bewerber im Bewerbungsprozess.
Wichtige Punkte für Arbeitgeber
- Einladungspflicht ernst nehmen: Schwerbehinderte Bewerber müssen eingeladen werden, sofern ihre fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt.
- Genauere Prüfung der Qualifikationen: Die tatsächlichen Ausbildungsinhalte und Berufserfahrungen sollten berücksichtigt werden, nicht nur die formale Berufsbezeichnung.
- Beweislast bei Benachteiligung: Kann ein Arbeitgeber die Vermutung der Benachteiligung nicht widerlegen, drohen Entschädigungszahlungen.
Rechtsgrundlagen
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG): Schützt vor Benachteiligungen aufgrund von Behinderung, Alter, Geschlecht, Religion und anderen Merkmalen.
Sozialgesetzbuch IX (SGB IX): Regelt die Rechte schwerbehinderter Menschen, speziell im Arbeitsleben.
§ 15 Abs. 2 AGG: Ermöglicht die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen bei Diskriminierung.
§ 165 SGB IX: Verpflichtet Arbeitgeber, schwerbehinderte Bewerber zu Vorstellungsgesprächen einzuladen.
Empfehlungen für Bewerber
- Hinweis auf Schwerbehinderung: Offenlegung kann Vorteile bringen, da bestimmte Schutzrechte greifen.
- Ausführliche Darstellung der Qualifikationen: Betonen Sie relevante Ausbildungsinhalte und Berufserfahrungen.
- Kenntnis der eigenen Rechte: Wissen um gesetzliche Regelungen kann bei Benachteiligungen hilfreich sein.
- Über den Autor
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Carolin-Jana Klose ist seit 2023 Autorin bei Gegen-Hartz.de. Carolin hat Pädagogik studiert und ist hauptberuflich in der Gesundheitsprävention tätig. Ihre Expertise liegt im Sozialrecht, Gesundheitsprävention sowie bei gesellschaftspolitischen Themen. Sie ist aktiv in der Erwerbslosenberatung und engagiert sich politisch für Armutsbetroffene.