Versicherte können fast ihre komplette Altersrente als Teilrente beziehen – das entschied das Bayerische Landessozialgericht. Ein Streit um Kommastellen setzt ein klares Signal für mehr Flexibilität beim Rentenbezug.
Hintergrund: Der Kampf um die letzte Nachkommastelle
Was auf den ersten Blick wie ein kleinlicher Streit wirkte, hatte für die betroffene Rentnerin finanzielle und rechtliche Bedeutung. Die 1944 geborene Frau bezog bereits seit 1999 eine Erwerbsunfähigkeitsrente und erhielt ab 2009 die reguläre Altersrente.
Ab Juli 2017 stellte sie einen Antrag auf eine höchstmögliche Teilrente gemäß dem neuen Flexirentengesetz. Ihr Ziel: Weiter pflegen und gleichzeitig nahezu die volle Rente erhalten. Die Rentenversicherung bewilligte jedoch nur 99 Prozent der Vollrente. Die Versicherte akzeptierte das nicht und forderte 99,99 Prozent – eine Forderung, die sich durch den Widerspruch und schließlich eine Klage bis vor das Bayerische Landessozialgericht zog.
Besonders brisant: Noch während des Verfahrens verstarb die Klägerin. Ihr Bevollmächtigter setzte das Verfahren als Testamentsvollstrecker fort. Dass der Fall nicht einfach eingestellt wurde, sondern ein Grundsatzurteil erging, zeigt die grundsätzliche Bedeutung der Streitfrage.
Flexirentengesetz: Mehr Freiheit für ältere Arbeitnehmer
Mit dem Flexirentengesetz von 2016 wollte der Gesetzgeber mehr Spielräume schaffen, um den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibler zu gestalten. Versicherte sollten frei wählen können, ob sie ihre Rente in voller Höhe oder in Teilbeträgen beziehen – unabhängig von eventuellen Hinzuverdiensten.
Die feste Staffelung in Drittel-, Halb- oder Zweidrittelrenten entfiel. Stattdessen sah § 42 SGB VI nur noch eine Mindestgrenze von 10 Prozent der Vollrente vor. Eine Obergrenze, so das Gesetz, existiert ausdrücklich nicht. Damit sollte individuelle Lebensplanung ermöglicht werden, etwa durch Teilzeitarbeit oder Pflege von Angehörigen.
Die Deutsche Rentenversicherung interpretierte jedoch die neue Gesetzeslage restriktiver. Intern legte sie fest, dass maximal 99 Prozent der Vollrente als Teilrente gezahlt werden dürften. Man fürchtete rechnerische Komplikationen: Eine auf vier Stellen genaue Prozentberechnung könnte durch Aufrundung dazu führen, dass der Rentenbetrag exakt der Vollrente entspräche – was nach Gesetz keine Teilrente mehr wäre.
Die Entscheidung: Gesetz geht vor Verwaltungsvereinfachung
Das Bayerische Landessozialgericht wies diese Argumentation klar zurück. Weder der Wortlaut des Gesetzes noch dessen Begründung stützen die Annahme einer festen Obergrenze von 99 Prozent. Vielmehr stehe es im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers, den Rentenbezug stärker an den individuellen Bedürfnissen auszurichten, auch eine Teilrente von 99,99 Prozent zuzulassen.
Die Richter hoben hervor, dass das Argument eines „unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwands“ nicht trage. Schon heute arbeiteten Rentenversicherungsträger routinemäßig mit vier Dezimalstellen, etwa bei der Berechnung von Entgeltpunkten.
Eine Berechnung auf zwei Dezimalstellen, wie sie § 123 Abs. 1 SGB VI ohnehin für Geldleistungen vorschreibt, sei alltägliche Praxis. Die Sorge, dass minimale Aufrundungen zu einer unzulässigen Vollrente führen könnten, erscheine vorgeschoben.
Auch betonten die Richter, dass selbst geringfügige Abweichungen in der Rentenhöhe für die Betroffenen über die Jahre erhebliche Summen ausmachen könnten. Ein Centbetrag pro Monat mag unbedeutend wirken; auf Jahre gerechnet, wächst daraus ein vierstelliger Betrag. Gerade im Hinblick auf die finanzielle Absicherung im Alter sei es deshalb legitim, die gesetzlich möglichen Spielräume voll auszuschöpfen.
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Signalwirkung für Rentnerinnen und Rentner
Das Urteil des Landessozialgerichts bedeutet für viele ältere Arbeitnehmer und Ruheständler einen echten Gewinn. Wer etwa weiterhin in Teilzeit arbeitet oder ehrenamtliche Pflege leistet, kann nahezu seine volle Altersrente beziehen, ohne auf den formalen Status der Vollrente umsteigen zu müssen. Dies schafft finanzielle Planungssicherheit und erlaubt eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit, Rente und anderen Verpflichtungen.
Die Möglichkeit, eine Teilrente von 99,99 Prozent zu beantragen, dürfte künftig insbesondere für jene attraktiv sein, die geringfügig hinzuverdienen möchten, ohne auf Rentenansprüche zu verzichten. Auch Pflegepersonen, die durch ihre Tätigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert bleiben, profitieren davon, dass sie flexibel zwischen Erwerb und Rentenbezug wechseln können.
Zugleich erhöht das Urteil den Druck auf die Rentenversicherungsträger. Interne Verwaltungsvorgaben, die über gesetzliche Regelungen hinausgehen, dürften nach dieser Entscheidung schwerer durchsetzbar sein. Künftig müssen die Rentenversicherungsträger individuelle Anträge präziser prüfen und dürfen sich nicht mehr pauschal auf verwaltungsökonomische Überlegungen berufen.