Im Netz kursieren nach wie vor Warnungen, eineย Erwerbsminderungsrente kรถnne den spรคteren Bezug einer abschlagsfreien Altersrente nach 45 Versicherungsjahren blockieren.
Die Sorge lautet, wer diese Marke verfehle, mรผsse im Alter dauerhaft mit weniger Rente auskommen.
Ein genauer Blick in die Rentengesetzgebung zeigt jedoch: Die 45โJahreโGrenze ist fรผr viele Betroffene schlicht nicht entscheidend, weil ihre Erwerbsminderungsrente schon heute auf einem Niveau liegt, das selbst eine spรคtere Altersrente ohne Abschlรคge hรคufig nicht รผbertreffen wรผrde.
Inhaltsverzeichnis
Die Wirkung der Zurechnungszeit
Drehโ und Angelpunkt ist die 2019 grundlegend ausgeweitete Zurechnungszeit. Sie sorgt dafรผr, dass die Deutsche Rentenversicherung so tut, als habe der oder die Versicherte bis zur jeweiligen Regelaltersgrenze weitergearbeitet โ und zwar mit einem durchschnittlichen Einkommen, das sich aus der bisherigen Erwerbsbiografie ableitet.
Die gesetzliche Tabelle hebt dieses fiktive Ende Jahr fรผr Jahr an: Fรผr Rentenzugรคnge 2024 endet die Zurechnungszeit rechnerisch erst mit 66โฏJahren und 1โฏMonat, 2025 bereits mit 66โฏJahren und 2โฏMonaten. Jede Addition von Monaten bringt zusรคtzliche Entgeltpunkte und erhรถht die Monatsrente messbar.
Besitzschutz: Die Garantie, dass nichts verloren geht
Kommt es spรคter zum automatischen Wechsel in eine Altersrente, greift der sogenannte Besitzschutz nach ยงโฏ88 SGBโฏVI.
Die persรถnliche Entgeltpunktezahl wird vollstรคndig รผbernommen. Eine neue Rente darf also niemals niedriger sein als die bis dahin gezahlte Erwerbsminderungsrente, selbst wenn die Wartezeit von 45 Jahren nicht erfรผllt ist. Abschlรคge, die bereits in der EMโRente enthalten waren, werden zudem nicht doppelt angerechnet.
Damit entkrรคftet der gesetzliche Mechanismus das Argument, eine frรผhe EMโRente sei grundsรคtzlich ein finanzielles Risiko fรผr die spรคtere Altersversorgung.
Zahlen, die das Bild gerade rรผcken
Aktuelle Statistiken untermauern diese Logik: 2023 lag die durchschnittliche monatliche Erwerbsminderungsrente bei 972โฏEuro, wรคhrend neue Altersrenten im Schnitt 1.099โฏEuro erreichten. Durch die inzwischen weiter verlรคngerte Zurechnungszeit und die krรคftige Rentenanpassung von 3,74โฏProzent zum 1.โฏJuliโฏ2025 verkรผrzt sich diese Differenz noch einmal deutlich โ fรผr viele Neurentner gleicht sie sich sogar aus.
Ein zusรคtzlicher Zuschlag fรผr Bestandsrentner
Wer seine EMโRente bereits zwischen 2001 und 2018 angetreten hat, profitiert seit Juliโฏ2024 von einem pauschalen Zuschlag von 7,5 beziehungsweise 4,5โฏProzent.
Er wird bis Dezemberโฏ2025 vollstรคndig auf individuelle Entgeltpunkte umgestellt und dauerhaft in die Berechnung einflieรen. Spรคtestens ab diesem Zeitpunkt liegen viele รคltere EMโRenten ebenfalls auf Augenhรถhe mit vergleichbaren Altersrenten, ohne dass dafรผr 45 Versicherungsjahre nรถtig wรคren.
Wenn Vorsicht teuer wird
Trotz dieser Fakten entscheiden sich manche Versicherte, eine gut dotierte Erwerbsminderungsrente vorzeitig zu beenden, um durch Minijobs oder kurzfristige Beschรคftigungen die 45 Jahre doch noch vollzubekommen.
Fachleute der Deutschen Rentenversicherung warnen jedoch, dass daraus kaum spรผrbare Mehrbetrรคge entstehen, wรคhrend der Anspruch auf den Besitzschutz verloren gehen kann, falls der รbergang in die Altersrente erst nach Ablauf von 24 Monaten erfolgt. Besser ist es, vor jeder Rรผckkehr in den Job eine Rentenauskunft anzufordern und die individuelle Hochrechnung prรผfen zu lassen.
Praxisbeispiel
Ein Maschinenbautechniker bezieht seit 2025 eine volle Erwerbsminderungsrente von 1.270โฏEuro brutto. Sein Versicherungskonto weist 41โฏBeitragsjahre auf. Wรคre er gesund geblieben und hรคtte die abschlagsfreie Altersrente nach 45 Jahren erreicht, kรคme er โ konservativ hochgerechnet โ auf etwa 1.300โฏEuro. Zu berรผcksichtigen ist jedoch, dass sein EMโBezug wegen der Hochwertung bereits alle kรผnftigen Lohnerhรถhungen bis 66โฏJahre und 2โฏMonate abbildet.
Zuzรผglich der jรคhrlichen Rentenanpassungen entsteht damit ein reales Plus gegenรผber der fiktiven 45โJahreโRente. Der Besitzschutz garantiert, dass dieser Vorsprung beim Rentenรผbergang erhalten bleibt.
Warum die 45โJahreโGrenze an Gewicht verliert
Der ursprรผngliche Gedanke hinter der abschlagsfreien โRente mit 63โ war sozialpolitisch sinnvoll: Menschen mit sehr langen Erwerbsbiografien sollten nicht fรผr frรผhere Berufsjahre benachteiligt werden.
In der Praxis hat die Ausweitung der Zurechnungszeit einen vergleichbaren Effekt fรผr Erwerbsgeminderte erzeugt. Hinzu kommen flexible Hinzuverdienstgrenzen und die Zuschlรคge fรผr รคltere Bestandsrentner. Das Ergebnis: Der Status der EMโRente ist lรคngst kein Makel mehr, sondern in vielen Fรคllen ein finanzielles Polster, das die 45โJahreโStrategie รผberflรผssig macht.
Was Betroffene jetzt tun sollten
Wer bereits eine Erwerbsminderungsrente bezieht, sollte rechtzeitig โ spรคtestens vor Erreichen des 63. Lebensjahres โ eine schriftliche Rentenauskunft anfordern. Darin lรคsst sich genau ersehen, wie hoch die Altersrente mit und ohne weitere Beitragszeiten ausfรคllt.
Wer die EMโRente erst beantragen muss, sollte darauf achten, dass alle Zeiten von Krankheit, Pflege oder arbeitslosen Phasen korrekt gemeldet sind, weil sie bei der Zurechnungszeit eine Rolle spielen.
Fรผr beide Gruppen gilt: Die 45 Versicherungsjahre sind selten der entscheidende Hebel, der รผber eine sorgenfreie Rente entscheidet. Maรgeblich ist die reale Hรถhe der aktuell gezahlten oder berechneten EMโRente.
Fazit
Die Rechtslage ist klar und in mehrfachen Reformschritten gefestigt: Eine Erwerbsminderungsrente wird รผber die verlรคngerte Zurechnungszeit systematisch aufgewertet, der Besitzschutz sichert die einmal erreichte Leistung dauerhaft ab und Zuschlรคge verbessern รlteren zusรคtzlich die Lage.
Wer die 45โJahreโGrenze nicht erzielt, hat daher keineswegs automatisch das Nachsehen. Entscheidend bleibt die individuelle Rentenhรถhe โ nicht die Symbolik einer abschlagsfreien Altersrente.