Ein Tag Hartz IV

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Jens Neugebauer erzählt autobiographisch ein Tag aus seinem Leben mit Hartz 4. Viele Betroffene werden sich sicher dabei wieder finden …

Ein Tag Hartz IV

Es ist 8:00 Uhr am Morgen, ich bin gerade aufgewacht. Kein Wecker klingeln hat mich geweckt. Nein, dieses Gerät wäre auch überflüssig und ohne einen sinnvollen Zweck für mich. Einen Wecker brauche ich seit über einem halben Jahr nicht mehr, denn seit dieser Zeit bin ich arbeitslos. Langsam und ohne große Lust verlasse ich mein Bett. Nun folgt das allmorgendliche Ritual, schnell einen Kaffee kochen, eine Zigarette nehmen, den Fernseher einschalten. So sitze ich, im noch immer andauernden Halbschlaf, vor dem Fernseher, und überlege, welcher Tag heute ist und was ich noch zu gedenken tue. – Heute müsste doch Montag sein? Ja, Montag haben wir heute! – Montag ist heute, da ich doch gestern im Fernsehen „Nur die Liebe zählt“ geschaut habe. Also war gestern Sonntag und heute ist Montag. > So paradox dies auch klingt, nicht irgendwelche Verpflichtungen erklären mir den Wochentag, sondern das tägliche Fernsehprogramm. < Doch was spielt das schon für eine Rolle, welcher Tag heute ist.

Ob Samstag, Sonntag, ein Wochentag, oder Feiertag, die Tage unterscheiden sich in ihrer monotonen Ablaufweise nicht gerade viel voneinander. Doch heute will ich nicht den ganzen Tag zu Hause bleiben. Ich muss mich irgendwie betätigen. Geld habe ich keines. Also, was kann man ohne Geld machen? – Spazieren gehen? – Nein, dazu habe ich allein keine Lust. Wohin soll ich überhaupt gehen? Meine häusliche Umgebung kenne ich doch in- und auswendig und für ein Straßenbahnticket habe ich kein Geld. – Bewerbungen schreiben? Aber wo soll ich mich bewerben? – Es gibt seit Wochen keine adäquate Stellenausschreibung auf der Internetseite von der Arbeitsagentur. Nur einige Zeitarbeitsfirmen sind in dem Onlineverzeichnis vertreten. Aber diese stehen schon seit Wochen dort drin und auf Anrufe und Bewerbungen reagieren diese auch nur mit der Aufnahme in ihr Personalvermittlungsregister. Die Stellen die sie dort anzubieten haben, haben sie scheinbar gar nicht dringend zu besetzen. – Vielleicht sind diese ja auch nur imaginär? – Trotzdem sind sie immer auf der Suche nach qualifiziertem Personal. – Das muss doch irgendeinen Grund haben? – Ja, ich werde es noch mal mit einer Bewerbung bei einer Zeitarbeitsfirma versuchen. – Geld, ich brauche Geld für Bewerbungen! – Das Porto und die Fotos sind doch nicht billig und von den 330 Euro ist am Monatsende nicht viel übrig. Genau genommen ist mein Konto überzogen. Ja, das Geld werde ich mir holen. Ich habe doch noch eine Vielzahl von schriftlichen Absagen. Diese werde ich heute in der ARGE abgeben und dort wird man mir das Geld schon überweisen. Denn das Wenige, was einem noch extra bezahlt wird, sind die erhaltenen Absagen und verschickten Bewerbungen. Also suche ich in aller Eile meine erhaltenen Absagen zusammen. Nun noch schnell die Bewerbungen ausdrucken, auf die ich keine Absage erhalten habe. Deren Anzahl ist weitaus größer, als die der erhaltenen Absagen. Jetzt noch alles schnell in die Mappe von dem Arbeitsamt packen. – Wie spät ist es überhaupt? – – 8:45 Uhr – Da muss ich mich beeilen, um so schnell wie möglich zur Arbeitsagentur zu gelangen, sonst komme ich vor Mittag dort nicht raus! Also, auf geht’s, so schnell wie möglich ins Bad, Haare waschen, rasieren, fönen und das Gel zum stylen darf auch nicht fehlen, denn ich bin sehr eitel. Um 9:00 Uhr wäre dies auch geschafft. – Doch wie komme ich zur Arbeitsagentur? – Es sind etwas über 3 Kilometer bis zu dieser. Ein Straßenbahnticket jedenfalls, für 1,70 Euro pro Einzelfahrt, kann ich mir nicht leisten. Dies stört mich aber auch nur wenig. Ich bin jung und etwas Bewegung kann mir nicht schaden. Das tut meinen, von der Arbeitslosigkeit hervorgerufenen, Muskelschwund nur gut.
Um 9:40 Uhr betrete ich die Arbeitsagentur. Nun schnell in den Fahrstuhl, vor dem sich eine Menschenmenge tummelt und auf in die 2 Etage. > Dort sitzt die ARGE. < – Oh Gott, was ist denn hier los? Ich hätte doch etwas eher aufstehen sollen. > Zwei große Schlangen von Menschen stehen, wie in einer Perlenkette aufgereiht, im großen Vorraum der ARGE. Eine endet an der rechten Theke, wo 4 Sachbearbeiter sitzen und die andere an der linken Theke, wo 3 Sachbearbeiter sitzen. < Ich muss mich in der rechten Schlange einreihen, denn diese ist für mein Postleitzahlengebiet zuständig. Nun überkommt mich wieder dieses mulmige Gefühl und in meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. > Meine derzeitige Situation wird mir bei dem Anblick der Enttäuschten und Hoffnungslosen immer besonders deutlich bewusst. < All diese Menschen suchen auch Arbeit, viele auch schon länger wie du. – Ob sich hier auch „Staatlich geprüfte Techniker für Maschinenbau“ eingereiht haben? – Den Beruf, den du, mit einem sehr guten Resultat, im August abgeschlossen hast. Oder wirst du der einzige Techniker sein, der in dem mehr als einem halben Jahr, nichts gefunden hat. Egal, auch wenn mehrere Techniker mit mir um die kaum vorhandenen Jobs konkurrieren, der Technikerberuf ist sehr vielseitig. Ich will jedenfalls in die Konstruktion und als Konstrukteur arbeiten. Aber auch der Bereich der Qualitätssicherung, Fertigungsplanung und der Auslegung und Berechnung der Festigkeiten von Maschinenbauteilen würde mich reizen. Doch das Arbeiten als Konstrukteur gefiele mir schon sehr. Ich habe mir nicht umsonst, in der Anfangszeit meiner Arbeitslosigkeit, das Konstruktionsprogramm Catia V5, neben AutoCad und Solid Works, im Selbststudium beigebracht. Wenn alle Stricke reißen, kann ich jedenfalls immer noch in meinen alten Beruf als Kraftfahrzeugmechaniker zurück.

> Auch Frauen mit Kindern stehen in der Reihe. < Wie froh bin ich, dass ich keine Kinder habe. Für diese ist es bestimmt viel schwerer, in der heutigen Konsumgesellschaft, die Ansprüche der Kleinen zu erfüllen und das Familienglück aufrechtzuerhalten. Für diese kleinen Wesen ist doch Harz 4 nur ein Wort. Sie leben noch in einer idealisierten Welt und kennen keine sozialen Schichten. Sie verstehen nicht, warum andere Kinder etwas bekommen dürfen und sie selbst nicht. Man kann nur hoffen, dass ihnen dieses Weltbild noch lange erhalten bleibt. > Aber heißt es nicht immer: Der soziale Stand überträgt sich auf die nachfolgenden Generationen. < – Kinder? – Ja, Kinder will ich auch noch haben. Ich werde doch schließlich bald 31 und da drängt die Zeit. Aber Kinder kosten doch Geld und eine Frau braucht man schließlich auch dazu. Nein, mit Harz 4 werde ich keine Kinder bekommen. Aber eine Frau an meiner Seite würde mein langweiliges Leben etwas versüßen. – Nein, eine Frau werde ich
nicht so schnell finden. – Schließlich klebt der Makel von Harz 4 an mir und mit diesem verringern sich meine Chancen beim weiblichen Geschlecht um ein Vielfaches. Obwohl ich, glaub ich, nicht hässlich bin und mich durch viel Sport fit halte, kann ich einer Frau nichts bieten. Welche Frau will den ganzen Tag in der Wohnung vor dem Fernseher hocken? Nicht einmal ein Auto habe ich. Dies ging mit dem BAföG nicht und heute, mit 330 Euro, erst recht nicht. > Der Nächste bitte! <
– Der Nächste? – Ja, ich bin der Nächste. Ich teile der freundlichen, aber gestressten, Sachbearbeiterin mein Problem der Bewerbungskostenrückerstattung mit. Diese leitet mich gleich in das rechts anschließende Großraumbüro weiter, froh die Schlange um eine Person so schnell verkürzt zu haben. Links und rechts neben dem Eingang befinden sich zwei Sitzreihen, die auch weitestgehend besetzt sind. Ich setze mich rechts davon, mit dem Blick in den weiten großen Raum, der rechts und links mit jeweils 4 Büroplätzen ausgestattet ist. Zuallererst schaue ich mich um. Nur von Niemanden gesehen werden, der mich kennt. > Denn hier zu sitzen ist mir immer noch peinlich. < Nein, es ist niemand da, den ich kenne. Ich schaue wieder in die Gesichter der Hoffnungslosen, die vorher in meiner Schlange standen und beginne wieder vor mich hinzusinnieren. Hier sitzen Menschen jeden Alters. Aber die große Anzahl der Jungen fällt mir sofort auf. Diese Jungen, zu denen ich mich auch noch zähle, haben doch auch Pläne für die Zukunft. Wir wollen unser Leben doch auch gestalten und unsere Träume verwirklichen. Nur die kleinen Träume, die Jeder hat, vom Auto, Haus, Familie und der Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben. Doch wie soll ich, und die anderen Hoffnungslosen, diese zum Leben erwecken. Nein, einfach wird dies nicht. Doch auch wenn bei den meisten Menschen, die hier sitzen, Träume, Träume bleiben werden. Du wirst es schaffen! – Oder doch nicht? – > Diese Selbstzweifel überkommen mich seit meiner Arbeitslosigkeit immer häufiger. < Aber meine Chancen stehen mit einer guten Qualifikation nicht ganz so schlecht. – Oder zählt dies heute auch nicht mehr? –
– 10:15 Uhr- Ich höre, wie alle anderen die mit mir warten, den Klagen der Harz 4 Empfänger, die diese der Sachbearbeiterin vortragen, zu. > Da die einzelnen Schreibtische der ARGE – Mitarbeiter nur durch Kunstoffwände, über die ein großer Mensch herübersehen kann, getrennt und daher auch zur Flurseite offen sind, kann man jedes einzelne vorgetragene Leid deutlich hören. < So höre ich die Geschichten von: Heizkosten die nicht bezahlt werden können. Der Klassenfahrt einer Tochter, die nur stattfinden kann, wenn die ARGE zahlt und von anderen Verzweifelten mit ihren Geldsorgen. Jeder, der mit mir Wartenden, lauscht neugierig und ohne dabei auffällig zu wirken, den Anliegen dieser Menschen hinter der 1. Trennwand zu und gibt sich dem seligen Gedanken hin, nicht allein in diesem Sumpf gefangen zu sein. Plötzlich überkommt mich ein Gedanke. Wenn du in das 1. Büro hinter der Wartenische gerufen wirst, dann wissen alle Wartenden deine Probleme. Nein, das wäre mir ziemlich unangen ehm. Hat man denn als Harz 4 Empfänger kein Recht auf Persönlichkeitsschutz? Der Datenschutz scheint bei dieser Bevölkerungsgruppe nicht mehr zu greifen. So schnell ändern sich die Zeiten. Vor 10 Jahren waren der soziale Gegensatz und die Spannungen in der Gesellschaft noch nicht so groß.

> Herr …… bitte! < Das ist mein Name. Der von ganz vorn ist noch zu hören, also bin ich doch weiter hinten. In der 3. Bürospalte setze ich mich und trage der Sachbearbeiterin mein Problem vor. Innerhalb äußerst kurzer Zeit ist mein Antrag entgegengenommen und ich bin um 11:10 Uhr draußen. Ich habe nur eineinhalb Stunden auf der Agentur für Arbeit verbracht und freue mich, dass die Wartezeit, trotz der vielen Menschen, nicht zu lang war.
Auf dem Nachhauseweg denke ich über mein Mittagessen nach, für welches ich noch die nötigen Lebensmittel besorgen muss. Wie gern würde ich wieder einmal eine Pizza, einen Auflauf, oder Brathähnchen essen. Doch mein Herd ist kaputt und nur noch die Herplatten funktionieren. Also kann ich mir solch einen Festschmaus nicht kreieren. Egal, billig muss es sein.
Hoffentlich fallen nicht noch irgendwann die Herdplatten aus. Denn dann bleibt nur noch kalte Kost, denn ein Herd wird nicht mehr von der Agentur bezahlt, genausowenig wie eine Waschmaschine oder ein anderes Haushaltsgerät. Ich könnte mir ein Darlehen von der ARGE geben lassen, welches ich in Raten abzahlen müsste. Das will ich aber nicht und so werde ich das fast Unmögliche versuchen und jeden Monat 30 Euro von den 330 Euro zurücklegen. – 10 x 30 Euro sind 300 Euro. – Also werde ich in 10 Monaten einen neuen Herd haben. Hauptsache meine alte Waschmaschine hält noch eine Weile durch und keine anderen Kosten kommen auf mich zu. Wenn diese auch den Geist aufgibt, bedeutet das für mich eine mittlere Katastrophe und die Gefahr der Verschuldung. Erst vorherige Woche ist mir ein Stück von meiner Krone von dem hinteren Backenzahn abgebrochen. Diese konnte ich nur provisorisch abschleifen lassen. Aber eine Lösung für die Dauer ist dies nicht. Doch kostet eine neue Krone Geld und die ses Geld kann ich nicht auch noch von meinen 330 Euro abzweigen. Schicksal, denke ich. So wirst du den Menschen in Zukunft durch deine schlechten Zähne als Harz 4 – Empfängern zu erkennen sein. Es scheint mir, als kommen noch Zeiten auf mich zu, wie man sie im frühen Industriezeitalter kannte.

Also gut, eine Suppe vom Aldi tut es heute auch. Zu Hause angekommen schnappe ich mir eine alte Einkauftüte, meine Geldbörse und laufe zum nächsten Aldi. Um diese Zeit kommen mir immer sehr viele Menschen aus Russland entgegen, denn unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit gravierend hoch und sie verlassen meist erst um die Mittagszeit ihre Wohnungen. Schätzungsweise 10 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe gehen einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Jedoch sind die Meisten in staatlichen Maßnahmen untergebracht und die überwiegende Mehrheit arbeitslos. Auf einmal erscheint mir meine derzeitige Situation gar nicht mehr so hoffnungslos. Denn, wie schwer muss es erst für diese Menschen sein, von denen heute ungefähr 4 Millionen in Deutschland leben, eine Arbeit zu finden. Ich beherrsche wenigstens die deutsche Sprache und Schrift, habe einen einigermaßen hochqualifizierten Beruf und stehe in der Kenntnis der deutschen Arbeitskultur weitaus besser da.

Zuhause angekommen bereite ich mir mein köstliches Mahl zu, welches zugegeben, nur nach Chemie schmeckt. Aber beim Essen sparen ist das oberste Gebot. Wo sonst?
– 13:00Uhr – Gesättigt setze ich mich und schaue meine tägliche Talkschau. Früher habe ich solche Fernsehshows nie angeschaut und sie als Quelle der Verdummung der Jugend und dem Geltungsbedürfnis der Talkgäste, aus den meist unteren sozialen Schichten, abgetan. Nun, wo ich selbst dazu gehöre, finde ich Interesse daran. – Vielleicht hat sich bei mir auch schon dieses Geltungsbewusstsein entwickelt und das Streben nach Anerkennung, welches mir bei den nichtigen Streitereien ein Wohlbehagen überkommen lässt? –
– 14:00 Uhr – Lustlos setze ich mich an meinen PC und schreibe die Bewerbung. Der euphorische und zuversichtliche Tatendrang überfällt mich bei dieser Tätigkeit schon lange nicht mehr. Dazu hat mich die Realität zu schnell eingeholt. Was hab ich mir nicht alles in meiner Ausbildungszeit ausgemalt und wie hoffnungsvoll war ich eine Arbeitsstelle zu finden. Egal, das wahre Leben ist meistens anders als man denkt.
Verschicken werde ich die Bewerbung heute sowieso nicht, sondern erst, wenn das Geld von der ARGE überwiesen wird. Und so lasse ich diese, als Datei, unausgedruckt in meinem Computer. Da ich meist nur die Anschrift der Firma in meinem Word-Dokument ändern muss, geht das Bewerbungsschreiben recht rasch.
– 14:30 Uhr – Ich schaue wieder Fernsehen und zappe durch das Nachmittagsprogramm.
– 18:00 Uhr – Nun ist es Zeit für das Abendbrot. Einige Spiegeleier müssten reichen.
– 18:30 Uhr – Jetzt folgt das tägliche Abendprogramm.
– 24:00 Uhr – Ich schlafe bei laufenden Fernseher ein.
Es ist 8:00 Uhr am Morgen, ich bin gerade aufgewacht. Kein Wecker klingeln hat mich geweckt. Nein, dieses Gerät wäre auch überflüssig und ohne einen sinnvollen Zweck für mich. Einen Wecker brauche ich seit über einem halben Jahr nicht mehr, denn seit dieser Zeit bin ich arbeitslos. Langsam