Die Bundesregierung plant schärfere Regeln für das Bürgergeld bis zum vollständigen Leistungsentzug. Dieser Artikel basiert auf der Antwort der Bundesregierung (Drucksache 21/966) auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Timon Dzienus, Andreas Audretsch, Lisa Paus sowie weiterer Mitglieder der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 21/552).
Das Papier enthüllt eklatante Wissenslücken: Weder liegen belastbare Daten zu Kosten, Wirkung und Risiken vor, noch belegt die Statistik ein Massenproblem. Statt faktenbasierter Sozialpolitik droht Symbolpolitik – auf dem Rücken von rund fünf Millionen Leistungsberechtigten.
Inhaltsverzeichnis
Totalsanktion: Koalition prüft die harte Kante
Der Koalitionsvertrag sieht vor, Erwerbsfähigen, die wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, sämtliche Leistungen zu streichen. Ob dies nur den Regelbedarf oder auch die Wohnkosten betrifft, bleibt offen. Klar ist lediglich: Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 eine Obergrenze von 30 Prozent Kürzung gesetzt. Trotzdem arbeitet das Arbeitsministerium an einem Konzept für den „vollständigen Leistungsentzug“. Eine gesellschaftliche Folgenabschätzung fehlt.
Sanktionspraxis: Viele Regeln, wenige Fälle
2024 erhielt lediglich ein kleiner Teil der erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehenden mindestens eine Kürzung. Wie häufig dieselbe Person mehrfach sanktioniert wurde, ist unbekannt, weil die Jobcenter es nicht einheitlich melden. Totalsanktionen lassen sich bundesweit gar nicht beziffern – eine höchst fragwürdige Ausgangslage für das politische Vorhaben, dennoch drastisch nachzuschärfen.
Datenabgleich: Millionenprüfungen, Mini-Ergebnis
Jobcenter prüften im vergangenen Jahr über 1,3 Millionen Meldungen aus automatisierten Datenabgleichen. Daraus entstanden knapp 75.800 Rückforderungen – eine Trefferquote von nicht einmal sechs Prozent. Auch wenn man jede Überzahlung einer eigenen Person zurechnet, betrafen die Rückforderungen maximal 2,5 Prozent aller Leistungsberechtigten. Trotz dieser geringen Ausbeute laufen zwölf Großabgleiche pro Jahr weiter, ohne dass das Ministerium eine Kosten-Nutzen-Bilanz vorlegt.
Verwaltungsaufwand? Regierung weiß es nicht
Wie viel Zeit, Personal und Geld Sanktionen oder Missbrauchskontrollen verschlingen, bleibt offen. Es gibt weder eine Kalkulation zum Bearbeitungsaufwand je Sanktionsfall noch Schätzungen, ob strengere Sanktionen überhaupt Einsparungen bringen. Die Antwort der Regierung lautet lapidar: „Keine Erkenntnisse“. Wer härtere Eingriffe fordert, sollte eigentlich zuerst die eigenen Hausaufgaben machen.
Bandenbetrug: Zahlen entkräften die Panik
Im gesamten Jahr 2024 meldeten die 300 gemeinsamen Einrichtungen der Jobcenter bundesweit 421 neue Verdachtsfälle wegen bandenmäßigen Betrugs. Bestätigte Straftaten lagen noch deutlich darunter. Zwar weist die Regierung auf eine mögliche Dunkelziffer hin, doch selbst bei großzügiger Hochrechnung bleibt organisierter Betrug ein Randthema. Die oft dramatisierende Rhetorik steht in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Fallzahl.
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Bescheid prüfenRegelsatz-Lücke: Existenzminimum vertagt
Sozialverbände kritisieren seit Jahren, der aktuelle Regelsatz decke das Lebensnotwendige nicht. Die Bundesregierung verweist auf Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2023, die erst Ende 2025 verfügbar sein sollen. Einen Zeitplan für ein neues Regelbedarfsgesetz gibt es nicht. Wer schon heute zu wenig zum Leben hat, muss mindestens zwei weitere Jahre warten – trotz steigender Preise für Energie und Lebensmittel.
Job-First-Comeback ohne Evidenz
Die Koalition erwägt, den 2023 gestrichenen Vermittlungsvorrang wiederzubeleben. Doch Basisdaten zur Nachhaltigkeit frühvermittelter Jobs fehlen: Wie lange bleiben Betroffene in Arbeit, wie hoch ist die Rückkehrquote in den Leistungsbezug? Von 2015 bis 2024 sank die Zahl nachhaltiger Integrationen bereits von 516 000 auf 400 000. Ohne aussagekräftige Kennzahlen würde eine Rückkehr zum Job-First-Prinzip ins Blaue hinein erfolgen.
Kontrolle statt Unterstützung: Breite Maßnahmen, schmale Belege
Die Liste der Missbrauchskontrollen umfasst Außendienste, Hausbesuche, Identitäts-Checks und Kontostammdaten-Abrufe. Doch nur für den automatischen Datenabgleich liegen belastbare Zahlen vor. Für alle anderen Maßnahmen fehlen Statistiken zu Aufwand, Trefferquote und eingesparten Beträgen. Eine seriöse Bewertung ist deshalb „nicht möglich“.
Was Leistungsberechtigte jetzt tun können
- Widerspruch vorbereiten: Bei neuen Sanktionen frühzeitig rechtliche Beratung suchen.
- Kosten der Unterkunft prüfen: Diese dürfen gesetzlich nicht gekürzt werden.
- Unterlagen archivieren: Lückenlose Nachweise beschleunigen Verfahren und reduzieren Fehler.
Diese Maßnahmen schützen vor Fehlentscheidungen, solange die Datenlage lückenhaft bleibt.
Reform ohne Fundament
Totalsanktion, höhere Kürzungen, mehr Kontrolle – die Agenda klingt hart, doch das Datenfundament bröckelt. Die Regierung fordert stärkere Eingriffe, liefert aber weder eine Evidenz noch Schutzmechanismen gegen Wohnungsverlust. Zugleich ignoriert sie Hinweise auf Unterdeckung beim Regelsatz und den geringen Effekt millionenfacher Datenabgleiche.
Wer eine gerechte Grundsicherung anstrebt, benötigt transparente Zahlen und eine Debatte jenseits populärer Schlagworte. Bis dahin bleibt das Bürgergeld-Projekt ein riskantes Experiment – und die Betroffenen tragen die Last.