Die Verhandlerinnen und Verhandler von CDU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf eine „neue Grundsicherung“ verständigt. Das bisherige Bürgergeld soll damit abgeschafft werden.
Herzstück der geplanten Verschärfung ist ein vollständiger Entzug des Regelsatzes für sogenannte „Totalverweigerer“, also für Menschen, die trotz Erwerbsfähigkeit wiederholt zumutbare Arbeit ablehnen.
Das Vorhaben knüpft an Forderungen an, die die Union bereits in der vorangegangenen Legislaturperiode erhoben hatte und die nun – nach dem Bruch der Ampel‑Koalition – politisch durchsetzbar erscheinen.
Medienberichte über den „Durchbruch der Union“ bei den Verhandlungen verweisen darauf, dass das Thema Totalsanktionen in den Arbeitsgruppen kaum strittig war und als Symbol der neuen Härte gelten soll. Aber so einfach ist das nicht.
Inhaltsverzeichnis
Was sagt das Bundesverfassungsgericht zur Obergrenze von 30 Prozent?
Die Karlsruher Richterinnen und Richter haben 2019 klar entschieden, dass Sanktionen, die mehr als 30 Prozent des Regelsatzes mindern, unverhältnismäßig sind.
In ihrer Pressemitteilung 74/2019 zum Urteil 1 BvL 7/16 betonten sie, ein vollständiger Wegfall existenzsichernder Leistungen verletze das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, solange der Nachweis fehlt, dass mildere Mittel nicht ebenso wirksam wären.
Gleichzeitig ließ das Gericht nur eine eng begrenzte Ausnahme offen: Wenn eine tatsächlich existenzsichernde, zumutbare Arbeit konkret vorliegt und willentlich verweigert wird, könne eine sehr harte Sanktion theoretisch gerechtfertigt sein – vorausgesetzt, sie bleibt verhältnismäßig und bietet jederzeit einen Weg zurück in den Leistungsbezug.
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Welche Spielräume bietet der neue § 31a Absatz 7 SGB II?
Bereits die Ampel‑Regierung hat Ende März 2024 eine Totalsanktion in das Gesetz aufgenommen.
Nach § 31a Absatz 7 SGB II entfällt der Regelsatz für bis zu zwei Monate, wenn eine leistungsberechtigte Person innerhalb eines Jahres schon einmal wegen Arbeitsverweigerung sanktioniert wurde und eine unmittelbar verfügbare, zumutbare Stelle ohne wichtigen Grund ablehnt.
Die Befugnis ist allerdings befristet: § 86 des Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes sieht vor, dass diese Regelung am 27. März 2026 automatisch wieder außer Kraft tritt.
Totalsanktionen bleiben in der Praxis die Ausnahme
Die gesetzlichen Voraussetzungen sind so eng, dass Jobcenter kaum Fälle finden, in denen alle Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind. Vor jeder Sanktion muss der oder die Betroffene persönlich angehört werden; das Jobcenter muss zudem belegen, dass das Stellenangebot zum Zeitpunkt des Sanktionsbescheids noch besteht.
Arbeitgeber ziehen ihre Angebote aber häufig sofort zurück, sobald eine Absage vorliegt. Dadurch erlischt der Tatbestand, bevor die Behörde tätig werden kann. Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit heben genau diesen Punkt als zentrale Hürde hervor.
Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages bestätigt, dass § 31a Absatz 7 wegen seiner Komplexität nur einen „extrem kleinen Anwendungsbereich“ hat und in der Statistik bislang praktisch nicht auftaucht.
Juristische Hürden warten auf CDU und SPD
Will die designierte Koalition den vollständigen Leistungsentzug entfristen oder gar ausweiten, stößt sie auf drei Ebenen an Grenzen. Erstens müsste sie belegen, dass eine Totalsanktion geeignet und erforderlich ist, um Mitwirkungspflichten durchzusetzen – ein Nachweis, den Karlsruhe 2019 vermisst hat.
Zweitens müsste sie sicherstellen, dass Betroffene jederzeit die Möglichkeit haben, die Sanktion durch Kooperationsbereitschaft zu beenden; andernfalls droht ein Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit.
Drittens bleibt das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum unantastbar, sodass parallel Sach‑ oder Unterkunftsleistungen mindestens in einem Umfang gewährt werden müssten, der das physische Überleben garantiert.
Ohne eine Verfassungsänderung, die eine Zwei‑Drittel‑Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordern würde, kann der Gesetzgeber diese Leitplanken nicht einfach beiseiteschieben.
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Folgen für Betroffene und den Arbeitsmarkt
Empirische Befunde des Instituts für Arbeits‑ und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass Sanktionen die Arbeitsaufnahme kurzfristig beschleunigen können, gleichzeitig aber nicht intendierte Nebenwirkungen haben.
Sanktionierte Personen nehmen häufiger schlecht bezahlte Jobs an, ziehen sich auf längere Sicht aus dem Arbeitsmarkt zurück und berichten von erhöhter psychischer Belastung.
Das IAB betont, bei Leistungsminderungen über 30 Prozent drohten Strom‑ und Wohnungsverluste.
Für die jetzt schon seltene 100‑Prozent‑Sanktion erwartet das Institut keine nennenswerten Fallzahlen, weil der Tatbestand zu restriktiv gefasst ist.
Verfassungskonformer Weg zur Totalsanktion?
Theoretisch ließe sich eine Totalsanktion nur dann rechtfertigen, wenn gleichzeitig ein neues Sicherungsnetz eingezogen wird: etwa Gutscheine, Sachleistungen oder eine gesonderte Übernahme der Unterkunftskosten, die nicht als „Leistung“ im Sinne des Regelsatzes zählen.
Doch damit würde der Gesetzgeber das vermeintliche Einsparpotenzial gleich wieder verlieren, ohne die integrationspolitische Wirkung zu belegen. Ein verfassungsfestes Modell müsste zudem außergewöhnliche Härtefälle ausnehmen, schnelle Rückkehroptionen bieten und empirisch begründet sein.
Die Hürden, Karlsruhe „zufriedenzustellen“, bleiben daher hoch – und die politische Botschaft könnte in der Praxis an ihrem eigenen Anspruch scheitern.
Fazit: Geringe Umsetzungswahrscheinlichkeit
Totalsanktionen sind seit 2019 verfassungsrechtlich diskreditiert und seit 2024 nur in einem winzigen Nischenparagrafen zulässig, der 2026 wieder wegfällt. Deutlich ist, dass ein vollständiger Leistungsentzug weder rechtlich noch administrativ noch empirisch tragfähig ist.
Ohne neue Evidenz und ohne einen passgenau begrenzten Härtefallmechanismus wird jede Neuauflage vor Karlsruhe scheitern. Politisch mag die Debatte um „Totalverweigerer“ mobilisieren; rechtlich führt sie eher in eine Sackgasse und schürrt Ängste von betroffenen Leistungsbeziehern.