Die Bundesregierung bemüht für die Rechtfertigung des totalen Entzugs des Existenzminimums von Bürgergeld-Beziehenden das Konstrukt eines “autonom handelnden Totalverweigerers”. Dadurch soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts so interpretiert werden, dass es einen vollständigen Entzug der Lebensgrundlagen für die Betroffenen ermöglicht.
Inhaltsverzeichnis
Sanktionen bis zu 100 Prozent
Das sogenannte Zweite Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 soll „Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen“ bei „nachhaltiger Verweigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit“ ermöglichen, die bis zu zwei Monaten den Regelsatz des Bürgergeldes zu 100 Prozent entziehen.
Was sagt das Bundesverfassungsgericht?
2019 ordnete das Bundesverfassungsgericht Sanktionen bei damals Hartz IV als Eingriff in die Grundrechte ein. Als solcher bedürften sie verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Grundsätzlich billigte das Gericht Mitwirkungspflicht und Sanktionen, wenn diese das Ziel verfolgten, die Betroffenen in Arbeit zu bringen.
Nur Sanktionen bis 30 Prozent erkannte das Verfassungsgericht an
Einen Beleg für die Wirksamkeit von Sanktionen, um dieses Ziel zu erreichen, sah das Bundesverfassungsgericht nur bei Sanktionen von 30 Prozent gegeben, zu Sanktionen von 60 und 100 Prozent würden hingegen diesbezügliche Studien fehlen.
“Totalsanktionen sind unverhältnismäßig”
Das Gericht erklärte auch die Folgen wie mögliche Wohnungslosigkeit als Grund dafür, warum Totalsanktionen unverhältnismäßig seien.
Schlupfloch für Totalsanktionen?
Eine Passage folgte jedoch, die die Bundesregierung interpretieren könnte, um Totalsanktionen doch durchzuführen:
„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (…) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt (…).”
Im speziellen Fall stimmt das Verfassungsgericht zu
Unter dieser genannten Voraussetzung schließt das Verfassungsgericht: “Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und (…) zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund (…) willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ (Rn. 209)
Was sagt das eingeführte Gesetz zu Totalsanktionen?
2024 steht im Gesetz, das den Entzug des Regelsatzes festschreibt: “Der Leistungsanspruch entfällt in Höhe des Regelbedarfs, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte, deren Bürgergeld bereits wegen einer Pflichtverletzung innerhalb des letzten Jahres gemindert war, eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen. Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich verweigert werden. (§ 31a VII S. 1, 2 SGB II-E)”
Und außerdem steht dort: “Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31a VII S. 3 SGB II-E iVm § 31 I 2 SGB II).”
Liegt überhaupt Bedürftigkeit vor?
Die Rechtsprofessorin Andrea Kießling zeigt, dass die Aussage des Bundesverfassungsgerichtes unterschiedlich verstanden werden kann.
„Anders liegt dies folglich“ könnte bedeuten, dass die Betroffenen nicht bedürftig seien. Damit würde bereits die Voraussetzung fehlen, überhaupt einen Leistungsanspruch wegen Bedürftigkeit zu haben. Also müsste auch keine Verhältnismäßigkeit geprüft werden.
Diese Lesart wäre logisch: Wenn keine Bedürftigkeit vorliegt, gibt es keinen Anspruch auf Leistungen, die Bedürftigkeit voraussetzen.
Totalsanktionen auch ohne existenzsichernde Perspektive
Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Formulierung, dass durch die Aufnahme der Arbeit die menschenwürdige Existenz „tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst“ gesichert werde, bestätige das BVerG durch die Formulierung „eine solche tatsächlich existenzsichernde Erwerbstätigkeit“.
Nicht bedürftig wäre aber nur jemand, der keine Grundsicherung braucht, “Aufstocker” sind bedürftig. Auch wer in einen Minijob vermittelt wird, bleibt weiterhin bedürftig.
Laut Kiesling lässt die Bundesregierung die vollständige Sicherung der eigenen Existenz durch den angebotenen Arbeitsplatz außer Acht – und das ist beim Verfassungsgericht ein entscheidender Punkt, den es ausdrücklich betont.
Auch die Ablehnung von geringfügigen Beschäftigungen, die den Lebensunterhalt nicht sichern, fielen unter Totalsanktionen.
Kein Beleg für Wirksamkeit
Auch müsste die Bundesregierung Studien anführen, die die Wirksamkeit der 100 Prozent Sanktionen begründen. Dies täte sie aber nicht.
Der “autonom handelnde Totalverweigerer”
Laut Kiesling geht der Regierungsentwurf vom Leitbild des „autonom handelnden Totalverweigerers“ aus. Dieser weiß erstens vollumfänglich über die Folgen seiner Verweigerung, ist zweitens uneingeschränkt zur Arbeitsaufnahme fähig und lehnt drittens das Angebot ab.
So häufig wie ein weißer Hirsch
Kiesling zufolge trifft dieses Leitbild höchstwahrscheinlich nur auf wenige der Menschen zu, die Totalsanktionen treffen werden. Sie schreibt: “Oft handelt es sich bei diesen um psychisch stark belastete Personen oder um Personen mit Kompetenzdefiziten und Kommunikationsschwierigkeiten, um Menschen mit grundlegenden und mehrfachen Beschäftigungshindernissen (so das BVerfG 2019 in Rn. 59, 142)”.
Wer erkennt “Totalverweigerer”?
Laut Kiesling müsste es bei der gravierend wirkenden Totalsanktion detaillierte Vorgaben geben, damit “die Regelung wirklich nur diejenigen trifft, die dem Leitbild des „autonom handelnden Totalverweigerers“ entsprechen.”
Jobcenter Teil des Problems
Ausgerechnet Mitarbeiter in Jobcentern sollen in der Lage sein, diesen “weißen Hirsch” zweifelsfrei zu erkennen, der bei gänzlich klarem Bewusstsein und in vollem Wissen um die Konsequenzen zumutbare Stellen ablehnt, weil er nicht arbeiten will.
Jobcenter versagen bei der Einordnung psychischer Einschränkungen
Wo Kiesling “detailierte Vorgaben” fordert, zeigt die Realität im Umgang mit Betroffenen eindeutig, dass den Jobcentern für solche Einschätzungen nicht im mindesten zu trauen ist.
In sehr vielen Fällen sanktionierten Jobcenter Betroffene mit psychischen Einschränkungen und Suchterkrankungen oder andere bei denen der Grund für die vermeintlich “fehlende Kooperation” mangelnde Deutschkenntnisse, Lese- oder Schreibfähigkeiten waren.
Erst Sozialgerichte stellten dies klar, und dies selbst bei für Außenstehende überdeutlichen Symptomen, die die Jobcenter aber geflissentlich ignorierten.
Schwarze Pädagogik gegen Hilflose
Oft genug basierten diese Strafen der Jobcenter auf schwarzpädagogischen Verzerrungen aus der “Steinzeit der Psychologie”, nach dem Motto, dass schwer Depressive “sich einfach nur zusammen reißen müssten”, Alkoholkranke “nur Willen zeigen müssten” oder Menschen mit einer Angststörung “sich nicht so anstellen sollen”.
Damit ist leider auch klar, wen die Totalsanktionen vermutlich treffen werden – die Hilflosesten unter den Hilflosen.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.