Bürgergeld: Jobcenter darf mit Bescheid nicht vorläufig ablehnen

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Seit das „Rechtsvereinfachungsgesetz“ 2016 den neuen § 41a SGB II schuf, begleiten vorläufige Bewilligungen das Tagesgeschäft der Jobcenter. Die Norm soll Zahlungen sichern, obwohl wesentliche Einkommens- oder Bedarfskomponenten noch nicht feststehen.

Für Erwerbslose, Minijobber oder Solo-Selbstständige bedeutet das oft monatelange Zwischenlösungen, ungewisse Nachzahlungen oder überraschende Erstattungsforderungen.

Die Ablösung des Vorschuss-Modells

Vor 2016 griff die Grundsicherung auf den Vorschuss nach § 42 SGB I zurück. Mit § 41a SGB II wurde Vorschuss und vorläufige Entscheidung in einer Spezialvorschrift gebündelt; zusätzlich entstand ein Mini-Vorschuss nach § 42 Abs. 2 SGB II, gedeckelt auf 100 Euro, der faktisch kaum genutzt wird. De‑facto bedienen sich Jobcenter fast ausschließlich der vorläufigen Bewilligung, wenn Prognosen oder Nachweise fehlen.

Zwei Tatbestände, viele Alltagsfälle

Der Gesetzestext unterscheidet zwei Konstellationen:

  1. Anspruch wahrscheinlich, Voraussetzungen unaufgeklärt – klassisch bei Selbstständigen, deren künftiges Einkommen geschätzt werden muss.
  2. Anspruch dem Grunde nach gesichert, Höhe noch offen – etwa bei schwankenden Schichtzulagen oder Boni.

In der Praxis verschwimmt diese Trennung. Ob Minijob mit unplanbaren Zuschlägen, temporäre Bedarfsgemeinschaft oder offenes Sperrzeitverfahren: Entscheidend ist, dass die Klärung „voraussichtlich längere Zeit“ erfordert. Deshalb gibt es in vielen Stadt‑ und Landkreisen mehr vorläufige als abschließende Erstbewilligungen.

Kein Ermessen, aber breite Auslegungsspielräume

Das frühere Verwaltungsermessen, ob vorläufig bewilligt wird, hat der Gesetzgeber gestrichen. § 41a Abs. 1 formuliert eine Verpflichtung. Gleichwohl bleiben unbestimmte Rechtsbegriffe wie „hinreichende Wahrscheinlichkeit“. Die Gerichte akzeptieren eine weite Interpretation, verlangen aber eine transparente Begründung.

Bescheide müssen den Vorläufigkeitsgrund nennen; sie dürfen nach dem Willen des Parlaments nicht teil-vorläufig sein. Fehlende Begründungen machen den Verwaltungsakt rechtswidrig.

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Vorläufige Ablehnung unzulässig – Kernprinzip zum Schutz der Leistungsberechtigten

Wenig bekannt, aber zentral: § 41a SGB II erlaubt ausschließlich vorläufige Bewilligungen, keine vorläufigen Ablehnungen. Das folgt zwar nicht explizit aus dem Wortlaut, jedoch aus Systematik und Zweck. Die Norm soll einen Zahlungsanspruch sichern, wenn er noch nicht abschließend nachweisbar ist.

Eine Ablehnung auf Verdacht würde Betroffene ungeschützt lassen und die Funktion der Grundsicherung unterlaufen. Deshalb kann das Jobcenter bei unklarer Sachlage nur zwei Wege gehen:

Entweder es bewilligt vorläufig – mit Erstattungsvorbehalt und späterer Abschlussfestsetzung oder es lehnt endgültig ab – dann muss der Ablehnungsgrund bereits voll belegt sein.

Rechtswidrig wäre ein Bescheid, der förmlich „vorläufig ablehnt“. Kommt er dennoch vor, sollte unverzüglich Widerspruch eingelegt werden. Sozialgerichte kippen solche Bescheide regelmäßig, weil sie den Sicherungszweck verfehlen. Praktische Folge: In Eil-Szenarien kann ein Antrag auf einstweilige Anordnung (§ 86b SGG) zusätzlich Druck ausüben; das Gericht verpflichtet dann oft zur Zahlung, bis die Sachlage geklärt ist.

Nullfestsetzung: das schärfste Schwert

Bei der abschließenden Entscheidung dürfen Jobcenter – mangels Mitwirkung – den Anspruch auf null festsetzen. Die Bundesagentur für Arbeit wertete die Regelung zunächst als strikte „Präklusion“. Das BSG (Urt. 12.09.2018 – B 4 AS 39/17 R und 29.11.2022 – B 4 AS 64/21 R) korrigierte: Nachweise müssen bis zur zweiten Instanz beachtet werden. Gleichwohl können Gerichte verspätetes Vorbringen per Fristsetzung ausschließen (§ 106a/§ 157 SGG).

Die Rolle der einstweiligen Anordnung

§ 86b SGG schafft eine gerichtlich angeordnete Vorläufigkeit, wenn akute Notlagen bestehen. Diese Anordnungen basieren nicht auf § 41a, sondern auf Prozessrecht. Dadurch laufen Verwaltung und Gericht im gleichen Sachverhalt manchmal parallel: behördliche Prognose‑Logik einerseits, richterliche Gefahrenabwehr andererseits.

Fristenregime und Überprüfungsanträge

Spätestens zwölf Monate nach Ende des Bewilligungszeitraums muss die Behörde endgültig festsetzen; sonst wird die vorläufige Bewilligung automatisch endgültig. Überprüfungsanträge (§ 44 SGB X) bringen nur für das laufende und das Vorjahr Nachzahlungen, bei Erstattungsbescheiden aber vier Jahre. Fällt die Abschlussentscheidung spät im Jahr, kann die Reaktionsfrist dramatisch schrumpfen.

Individuelle Mitwirkungspflichten in zerbrochenen Bedarfsgemeinschaften

Ein BSG‑Urteil vom 13.12.2023 (B 7 AS 24/22 R) stellte klar: Mitwirkungspflichten knüpfen an individuelle Kenntnisse und Beschaffungsmöglichkeiten. Wer nach einer Trennung keinen Zugriff auf Unterlagen des Ex-Partners hat, darf nicht mit einer Nullfestsetzung bestraft werden, die nur dessen Obliegenheitsverletzung sanktioniert.

Offene Fragen und künftige Entwicklungen

Der EuGH verhandelt derzeit (C‑397/23) über das Aufenthaltsrecht unverheirateter Eltern von EU-Kindern; eine Entscheidung könnte Jobcentern neue Ermessensspielräume bei § 41a Abs. 7 eröffnen. Ungeklärt bleibt, ob die bloße Abgabe einer abschließenden EKS als Antrag auf endgültige Festsetzung wirkt – das BSG verneinte dies 2023, pochte aber auf Beratungspflichten der Ämter.