Die Bundesregierung plant, den Zeitpunkt, ab dem erziehenden Leistungsbeziehenden im SGB II eine Arbeit, eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme oder ein Sprach-/Integrationskurs „in der Regel“ zumutbar ist, von bisher drei Jahren auf die Vollendung des ersten Lebensjahres des Kindes vorzuziehen.
Diese Absenkung ist Bestandteil eines Referentenentwurfs des Bundesarbeitsministeriums für ein 13. SGB-II-Änderungsgesetz und damit Stand heute noch nicht geltendes Recht. In der Begründung heißt es ausdrücklich, die frühere Aktivierung solle die Integration in Arbeit stärken und längere Phasen der Erwerbslosigkeit von Familien vermeiden. Der Entwurf datiert vom 16. Oktober 2025.
Zur Zeit gilt: Schutzraum bis zum dritten Geburtstag
Nach geltender Rechtslage ist Eltern mit Kindern unter drei Jahren eine Arbeitsaufnahme grundsätzlich nicht zumutbar, solange dadurch die Erziehung gefährdet würde.
Die Bundesagentur für Arbeit präzisiert in ihren Fachlichen Weisungen zu § 10 SGB II: Ein bloßer Rechtsanspruch auf Betreuung genügt nicht; zumutbar kann Arbeit oder eine Maßnahme nur sein, wenn tatsächlich ein Betreuungsplatz in Anspruch genommen wird – und die Inanspruchnahme von Kita oder Tagespflege bleibt eine freiwillige Entscheidung der Eltern.
Selbst bei tatsächlich betreuten unter Dreijährigen ist stets der konkrete Einzelfall maßgeblich, einschließlich Wegezeiten und familiärer Situation, insbesondere bei Alleinerziehenden.
Geplanter Kurswechsel: Zumutbarkeit ab dem ersten Geburtstag
Der Referentenentwurf will diesen Schutzraum deutlich verkürzen. Künftig soll „unter der Voraussetzung einer vorhandenen Betreuungsmöglichkeit“ bereits ab dem ersten Geburtstag regelmäßig zumutbar sein, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder an einer Eingliederungsmaßnahme bzw. einem Sprachkurs teilzunehmen.
Die Regierung rechnet infolge der abgesenkten Altersgrenze mit rund 60.000 zusätzlichen Personen, bei denen künftig Zumutbarkeit gegeben wäre; entsprechend kalkuliert sie zusätzliche Ausgaben für Förderleistungen. Damit würde der Druck auf betroffene Familien faktisch früher einsetzen – mit spürbaren Folgen für Beratung, Mitwirkungspflichten und mögliche Rechtsfolgen bei Ablehnung zumutbarer Angebote.
Recht auf Elternzeit: Unangetastet – aber in der Praxis unter Spannung
Unabhängig vom Grundsicherungsrecht bleibt das arbeitsrechtliche Elternzeit-Regime bestehen.
Das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) gewährt Eltern einen Anspruch auf Elternzeit bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres; bis zu 24 Monate können zwischen dem dritten und dem achten Geburtstag genommen werden. Dieses Recht gilt arbeitsrechtlich gegenüber dem Arbeitgeber und ist nicht an den Leistungsbezug gekoppelt.
Gerichte haben zudem klargestellt, dass die Inanspruchnahme von Elternzeit – auch wenn Familien dadurch in den Bürgergeld-Bezug rutschen – für sich genommen kein „sozialwidriges Verhalten“ darstellt.
Gleichwohl können Jobcenter im SGB-II-System eigene Mitwirkungserwartungen setzen, sodass für armutsbetroffene Familien eine Spannungslage zwischen arbeitsrechtlicher Elternzeit und sozialrechtlichen Pflichten entsteht.
Kinderbetreuung: Rechtsanspruch trifft Realität
Seit 2013 besteht ein Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in Kita oder Kindertagespflege ab Vollendung des ersten Lebensjahres (§ 24 SGB VIII). In der Praxis bleibt die Versorgungslage jedoch vielerorts angespannt. Statistische Daten zeigen, dass die Betreuungsquote der unter Dreijährigen bundesweit zuletzt bei gut 37 Prozent lag; Studien beziffern die Lücke an U3-Plätzen auf über 300.000, regional sehr unterschiedlich verteilt.
Eltern setzen ihre Ansprüche zunehmend gerichtlich durch, doch nicht jeder Rechtsanspruch lässt sich kurzfristig in einen verfügbaren Platz übersetzen. Eine sozialrechtliche Vorverlagerung der Zumutbarkeit kollidiert somit mit einer Betreuungslücke, die gerade in Westdeutschland weiterhin erheblich ist.
Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.
Bescheid prüfenIntegrationskurse und Maßnahmen: Frühere Bindung an Angebote
Die geplante Reform nennt ausdrücklich auch Sprach- und Integrationskurse. Schon heute gilt: Unter Dreijährige begründen eine eingeschränkte Zumutbarkeit; eine Teilnahme kann freiwillig sein, sofern Kinderbetreuung tatsächlich gesichert ist.
Der Entwurf würde den Regel-Zumutbarkeitszeitpunkt vorziehen und damit die Schwelle senken, ab der Jobcenter entsprechende Teilnahmen stärker einfordern können – immer mit dem Vorbehalt, dass Betreuung „vorhanden“ sein muss. Die entscheidende Verschiebung liegt also weniger im „Ob“, sondern im „Wann“ und in der faktischen Verbindlichkeit gegenüber Familien mit einjährigen Kindern.
Praktische Folgen: Früherer Druck, mehr Einzelfallprüfungen
Für Eltern im Leistungsbezug bedeutet die Absenkung, dass Vermittlungsgespräche, Bewerbungsbemühungen und Kursangebote regelhaft bereits ab dem ersten Geburtstag relevant werden. Wo Kinderbetreuung faktisch fehlt oder die Eingewöhnung noch läuft, wächst die Bedeutung sorgfältiger Einzelfallprüfungen: Die Fachlichen Weisungen der BA verlangen schon heute, Betreuungszeiten, Wegezeiten, besondere Bedarfe des Kindes und die familiäre Gesamtsituation zu dokumentieren.
Wird die Altersgrenze abgesenkt, steigt das Risiko, dass Eltern sich gedrängt fühlen, Betreuung zu organisieren, die in ihrer Kommune noch gar nicht verfügbar ist – mit Reibungen bis hin zu Rechtsstreitigkeiten über Sanktionen oder wichtige Gründe für Ablehnungen.
Gleichstellungs- und Gerechtigkeitsfragen
Die Bundesregierung verspricht sich damit, Frauen schneller in Erwerbsarbeit zu bringen und Abhängigkeiten zu reduzieren. Gleichzeitig trifft frühere Aktivierung besonders Alleinerziehende und Familien mit geringer Marktmacht am Wohn- und Betreuungsmarkt.
Wer sich Betreuung nicht „erkämpfen“ kann, gerät in einen Zielkonflikt: Entweder man akzeptiert suboptimale Betreuungslösungen oder riskiert sozialrechtlichen Druck.
Die Gefahr einer Zwei-Klassen-Elternzeit liegt auf der Hand: Wer finanziell abgesichert ist, kann Elternzeitpläne freier gestalten; wer auf Grundsicherung angewiesen ist, erlebt früheren Aktivierungsdruck – trotz formal unvermindertem Elternzeitanspruch.
Rechts- und Umsetzungssicherheit: Offene Flanken
Zentral wird sein, wie „vorhandene Betreuungsmöglichkeiten“ definiert und nachgewiesen werden. Schon heute betont die BA, dass ein bloßer Rechtsanspruch nicht genügt; maßgeblich ist die tatsächliche Inanspruchnahme. Sollte der Gesetzgeber die Altersgrenze senken, ohne die Betreuungskapazitäten abzusichern, droht ein Vollzugsdefizit: Jobcenter müssen Einzelfälle sauber dokumentieren, Kommunen Betreuungsplätze schaffen, Eltern ihre Rechte ggf. einklagen. Ohne verlässliche Kita-Infrastruktur könnte die Praxis chaotisch und konfliktreich werden.
Fazit: Elternzeit wird nicht abgeschafft – aber ihre soziale Realisierbarkeit steht auf dem Spiel
Arbeitsrechtlich bleibt die Elternzeit bis zum dritten Geburtstag unberührt. Sozialrechtlich soll jedoch der „Regel-Zumutbarkeitszeitpunkt“ auf den ersten Geburtstag vorverlagert werden – ein Paradigmenwechsel mit spürbaren Folgen für Familien im Leistungsbezug.
Ob daraus eine echte Stärkung von Erwerbschancen oder vor allem zusätzlicher Druck entsteht, hängt weniger vom Paragrafenwortlaut als von der Realität vor Ort ab: ohne ausreichend Betreuungsplätze, fein austarierte Einzelfallprüfungen und rechtssichere Verfahren droht aus politischer Ambition soziale Überforderung zu werden. Die verwaltungspraktische Bewährungsprobe steht noch bevor – der Entwurf muss erst Gesetz werden, und seine Umsetzung wird sich am Alltag der Familien messen lassen.
Hinweis: Stand der Informationen ist der Referentenentwurf vom 16. Oktober 2025 und die derzeit geltenden Fachlichen Weisungen bzw. Gesetzestexte. Sollten im weiteren Gesetzgebungsverfahren Änderungen erfolgen, können sich die hier beschriebenen Bewertungen verschieben




