Viele Medien behaupten, Familien bräuchten 4.500 Euro brutto oder mehr, um das Bürgergeld hinter sich zu lassen. Neue Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen jedoch: Schon ab etwa 1.250 Euro brutto pro Monat kann eine vierköpfige Familie ohne Bürgergeld auskommen – je nach Alter der Kinder und Wohnort sogar darunter.
Wer allein lebt, steigt meist bereits ab 1.410 Euro brutto (rund 25 Wochenstunden Mindestlohn) aus dem Leistungsbezug aus.
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Realistische Bruttolohnschwellen 2025: So viel reicht wirklich
Die BA hat für alle 400 Kreise die anerkannten Durchschnittsmieten von Januar 2025 mit dem aktuellen Bürgergeldsatz und dem Wohngeld verrechnet. Ergebnis:
- Familie, zwei Kinder < 6 J.: Bürgergeldfrei ab ca. 1.250 € brutto (23 Std./Woche Mindestlohn).
- Familie, zwei Kinder ≥ 14 J.: Grenze bei 1.650 € brutto (30 Std.).
- Single Haushalt: Schwelle 1.410 € brutto (25 Std.).
Damit liegen die nötigen Einkommen deutlich unter dem in Talkshows oft genannten 20–25 € Stundenlohn.
Warum hohe Medienzahlen irreführen
Hohe Summen entstehen, wenn man Spitzenmieten aus München oder Rhein-Main, ein traditionelles Alleinverdienermodell und überdurchschnittlichen Lebensstandard kombiniert. Solche Extremfälle sind rechnerisch möglich, bilden aber nicht die typische Bedarfsgemeinschaft ab. Die BA-Daten spiegeln den Durchschnitt – nicht die teuersten 5 % der Mietangebote.
Singles: Ab 1.410 Euro raus aus Bürgergeld
Alleinlebende stellen fast jede zweite Bedarfsgemeinschaft. Hier greift Wohngeld schon ab geringem Einkommen und senkt den Bürgergeldbedarf spürbar. Dank der 10%Pauschale, die das Wohngeld beim zu versteuernden Einkommen abzieht, springt das Haushaltsbudget oft schlagartig über den gesetzlichen Bedarf. Ergebnis: Bürgergeld entfällt bereits bei ungefähr 1.410 Euro brutto.
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Alleinerziehende profitieren vom Kinderzuschlag
Alleinerziehende mit einem Kind ab 14 Jahren verlassen den Leistungsbezug meist schon ab 900 € brutto (16 Std. Mindestlohn). Mit zwei Kindern gleichen Alters reicht in 80 % aller Kreise sogar das Mindesteinkommen für den Kinderzuschlag: 600 € brutto (knapp 11 Std.). Kindergeld, Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag wirken hier wie ein doppelter Boden.
Paare ohne Kinder benötigen am meisten
Kinderlose Paare liegen mit durchschnittlich 2.454 € brutto an der Spitze der Schwellen. In München klettert die Marke auf fast 3.000 Euro, weil dort Mieten den Kostentreiber bilden. Der Befund zeigt, dass das klassische Ein-Verdiener-Modell besonders teuer wird, sobald keine Transferleistungen für Kinder fließen.
Familien mit Kleinkindern: Überraschend geringe Schwellen
Ein Paar mit einem Vorschulkind kommt bundesweit bei rund 1.800 € brutto (etwa 32 Std.) über die Grenze. Zwei Kleinkinder drücken die Schwelle noch einmal auf rund 1.700 € brutto. Wohngeld plus Kinderzuschlag wiegen hier stärker als der höhere Bürgergeldbedarf.
Regionale Unterschiede: München bleibt Ausreißer
Die Spanne zwischen günstigen Landkreisen in den neuen Bundesländern und Top-Mietlagen in Bayern beträgt bis zu 1.000 Euro brutto. Dennoch genügt selbst in München oft ein Stundenlohn von 17 bis 18 Euro bei 38 Std. Woche, um das Bürgergeld hinter sich zu lassen – weit entfernt von den in Debatten genannten 25 Euro.
So berechnen Sie Ihre eigene Schwelle
- Monatliche Warmmiete ermitteln (inkl. Heizung).
- Bürgergeld-Regelsatz für Haushaltstyp addieren.
- Kindergeld, Kinderzuschlag, Unterhaltsleistungen und Wohngeld abziehen.
- Ergebnis mit Nettoentgelt vergleichen – liegt das Netto höher, entfällt Bürgergeld.
- Online-Rechner der BA oder Sozialverbände liefern in wenigen Minuten eine individuelle Prognose.
Praxisbeispiel: Tübinger Vierpersonenhaushalt
Im Landkreis Tübingen reicht 1.650 Euro brutto, um als Familie mit zwei Teenagern bürgergeldfrei zu sein. Boris Palmers Rechnung mit 4.500 Euro beruht dagegen auf hypothetischen Topmieten und ignoriert Transferleistungen. Das Beispiel zeigt, wie einseitige Annahmen die öffentliche Debatte verzerren.
Zahlen sind nicht alles – und Medien verzerren die Sicht
Die Schwellen basieren auf Durchschnittsmieten und heutigen Transferregeln; beides kann morgen anders sein. Höhere Heizkosten, neue Mietobergrenzen oder ein gekürztes Wohngeld lassen Haushalte mit gleichem Lohn sofort wieder ins Bürgergeld fallen. Zugleich blenden viele Berichte genau diese Dynamik aus. Talkshows und Boulevard-Medien greifen Extremfälle auf, würzen sie mit Spitzenmieten und präsentieren so Stundenlöhne von 25 Euro als „neue Normalität“. Solche Schlagzeilen erzeugen Klicks, aber sie verschieben die Debatte vom Fakt zum Gefühl. Lesen Sie daher immer die Berechnungsgrundlage mit – und behalten Sie im Blick, dass jedes Modell ohne finanziellen Puffer eine riskante Gratwanderung bleibt. Ein Sozialstaat darf den Ausstieg nicht zur Gratwanderung machen, sondern muss Einkommenszuwächse dauerhaft lohnend gestalten. Nur wenn Politik, Wissenschaft und Medien nüchtern rechnen, bleibt Arbeit langfristig lohnend.