Wer keinen festen Wohnsitz hat und mit einer prekären Solo-Selbstständigkeit über die Runden kommen muss, verfügt selten über finanzielle Reserven.
Genau in dieser Situation steckt der junge Mann, dessen Fall die „Jobcenter Academy“ jetzt öffentlich gemacht hat: Sein Bürgergeld-Antrag wurde nach dreimonatiger Bearbeitungszeit abgelehnt, weil das Jobcenter ihn trotz Minieinkünften nicht als „hilfebedürftig“ einstufte.
Während der Bürgergeld-Bescheid auf sich warten ließ, rutschte er weiter in die Schulden, musste wechselnde Untermieten zahlen und steht inzwischen ohne gesicherten Schlafplatz da.
Inhaltsverzeichnis
Wie das Jobcenter rechnete
Aus dem Bescheid geht hervor, dass der Betroffene in einem einzelnen Monat 55 Euro über dem maßgeblichen Regelbedarf lag. Entscheidend war die Frage, welches Einkommen anzurechnen ist.
Das Jobcenter berücksichtigte lediglich eine pauschale Versicherungspauschale von 30 Euro, ließ aber sowohl die tatsächlichen Krankenversicherungsbeiträge von 260 Euro als auch die für seine Tätigkeit zwingend notwendigen Internetkosten unberücksichtigt.
Damit reduzierte sich das anerkannte Einkommen nicht ausreichend, um die Schwelle zur Hilfebedürftigkeit zu unterschreiten.
Selbstständigkeit und Freibeträge
Für haupt- wie nebenberuflich Selbstständige gelten dieselben Grundsätze der Einkommensanrechnung wie für abhängig Beschäftigte, doch die Umsetzung ist komplizierter.
Seit Juli 2023 dürfen erwerbstätige Leistungsberechtigte auf Einkommensanteile zwischen 520 Euro und 1 000 Euro 30 Prozent behalten – eine Regelung, die der Gesetzgeber ausdrücklich auch für Selbstständige geöffnet hat.
Voraussetzung ist allerdings, dass das Jobcenter die Betriebsausgaben und Vorsorgeaufwendungen nachvollziehbar ermittelt. Geschieht das – wie im vorliegenden Fall – zu pauschal oder bleiben Belege unberücksichtigt, verzerrt das Ergebnis.
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Kranken- und Pflegeversicherung als notwendige Ausgaben
§ 11 b Abs. 1 Nr. 3 SGB II stellt klar, dass Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung vom Einkommen abzusetzen sind, soweit sie für die Pflichtversicherung erforderlich sind.
Der Mindestbeitrag eines freiwillig gesetzlich versicherten Selbstständigen beträgt aktuell rund 260 Euro pro Monat. Wird dieser Betrag nicht abgezogen, überschätzt die Behörde das verfügbare Nettoeinkommen erheblich und kann so zu Unrecht den Hilfebedarf verneinen.
Und was ist mit den Internetkosten?
Gerade bei kleinen Online-Dienstleistungen oder digitaler Kreativarbeit sind stabile Internetverbindungen betriebliche Grundlage. § 11 b Abs. 1 Nr. 5 SGB II erlaubt den Abzug „notwendiger Ausgaben für die Erzielung des Einkommens“.
Hat der Leistungswillige plausibel gemacht, dass er ohne Internet weder Aufträge bekommt noch Rechnungen stellen kann, müssen die Jobcenter diese Kosten berücksichtigen. Ein fehlender Abzug kann deshalb Widerspruchs- und Klagechancen deutlich erhöhen.
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Bescheid prüfenWohnsituation ohne feste Adresse
Formal gilt ein Leistungsberechtigter als obdachlos, wenn er keinem dauerhaften Mietvertrag unterliegt.
Bezahlt er jedoch regelmäßig Untermiete für temporäre Schlafplätze, entstehen fortlaufende Unterkunftskosten. Zuständig bleibt das Jobcenter des „tatsächlichen gewöhnlichen Aufenthalts“, selbst wenn dieser häufig wechselt.
Praktisch lohnt es sich, jede Zahlung per Überweisung oder Quittung zu sichern und zusammen mit einer formlosen Erklärung der Gastgeber vorzulegen.
Die Rechtsprechung erkennt selbst Übernachtungen in Hostels als Bedarf an, sofern sie nicht freiwillig und dauerhaft selbst bestimmt statt langfristig vermittelbarer Wohnungen gewählt werden.
Widerspruch, Eilverfahren – und warum Fristen zählen
Gegen einen Ablehnungsbescheid läuft eine einmonatige Widerspruchsfrist. Hier genügt zunächst ein Satz: „Hiermit lege ich Widerspruch ein; Begründung folgt.“ Anschließend lässt sich binnen weniger Tage eine ausführliche Darstellung nachreichen.
Parallel kann – auch ohne Widerspruchsentscheidung – beim zuständigen Sozialgericht ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt werden, wenn existenzielle Not absehbar ist.
Gerade bei Obdachlosigkeit und Schuldenlage sprechen die Gerichte häufig Eilbeschlüsse aus, die das Jobcenter zu vorläufigen Zahlungen verpflichten.
Anwaltliche Hilfe trotz leerem Konto
Wer nur knapp über oder bereits unter dem Existenzminimum lebt, hat Anspruch auf einen Beratungshilfeschein. Damit übernimmt der Staat die außergerichtlichen Anwaltskosten; der Ratsuchende zahlt höchstens 15 Euro Eigenanteil.
In Hamburg und Bremen springt anstelle des Beratungshilfescheins die Öffentliche Rechtsauskunft und Vergleichsstelle (ÖRA) ein, wobei Betroffenen-Organisationen und Gewerkschaften wie ver.di oftmals schnellere Termine vermitteln.
Prozesskostenhilfe deckt später das gerichtliche Verfahren ab, wenn das Gericht hinreichende Erfolgsaussichten sieht.
Unterstützung durch soziale Einrichtungen
Neben Anwälten beraten vielfach Caritas, Diakonie, AWO, die Sozialberatungen der Linkspartei oder spezialisierte Erwerbslosen-Initiativen. Dort erhalten Betroffene Hilfe beim Ausfüllen von Formularen, Schreiben von Widersprüchen und bei Bedarf sogar einen geschulten Beistand für Termine – § 13 SGB X garantiert das Recht, jede Behördensitzung in Begleitung wahrzunehmen.
Variable Unterkunftskosten rechtssicher nachweisen
Ein häufiger Ortswechsel darf keinen Leistungsausschluss begründen. Entscheidend ist, dass tatsächliche Kosten nachgewiesen werden und kein anderer Träger schon zahlt. Praktisch hilfreich ist ein tabellarischer Nachweis in chronologischer Form: Datum des Aufenthalts, Adresse des Untermietzimmers, gezahlter Betrag, Name des Vermieters. Damit kann das Jobcenter die Kosten zeitanteilig anrechnen.
Zuständig bleibt regelmäßig die zuletzt aufgesuchte Kommune, bis ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt entsteht; ein „Weiterschieben“ des Obdachlosen ist rechtlich unzulässig.
Fazit – schnelle Reaktion, lückenlose Belege
Wer einen ablehnenden Bescheid erhält, sollte innerhalb von vier Wochen Widerspruch einlegen und sofort alle nicht berücksichtigten Ausgaben belegen. In prekären Fällen lohnt sich ein Eilantrag beim Sozialgericht und der Weg zum Fachanwalt für Sozialrecht, finanziert über Beratungshilfe oder Prozesskostenhilfe.
Je sorgfältiger Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, Unterkunftskosten und betriebsnotwendige Ausgaben dokumentiert sind, desto höher die Chance, dass ein Gericht das Jobcenter zu vorläufigen Zahlungen verpflichtet. Schließlich ist auch das Bürgergeld – trotz Nullrunde – ein Rechtsanspruch, kein Almosen.