Pflegegrad: Bei Erstzusage liegt die Beweislast bei der Versicherung

Lesedauer 4 Minuten

Ein Mensch mit diversen psychiatrischen Diagnosen und einem Grad der Behinderung von 100 bezog eine volle Erwerbsminderungsrente. Er beanspruchte einen Pflegegrad, den die Pflegeversicherung zunรคchst gewรคhrte, dann aber verweigerte. Vor dem Landesgericht Nordrhein-Westfalen konnte er seinen Anspruch durchsetzen. (L 5 P 75/23)

Pflegegrad 2 bewilligt, dann wieder entzogen

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat eine Entscheidung getroffen, die Pflegebedรผrftigen mit psychischen Erkrankungen den Rรผcken stรคrkt und eine gewisse Rechtssicherheit bringt. Es entschied zugunsten eines Betroffenen, dem zuerst Leistungen des Pflegegrades 2 zugesprochen, dann aber wieder entzogen wurden.

Pflegegrad bei psychischen Krankheiten

Die Gutachten, um einen Pflegegrad festzustellen, sind bei psychischen Erkrankungen fรผr Laien oft schwer zu durchschauen.

Die Bewertung ist meist komplizierter als bei kรถrperlichen Leiden, und Fachmediziner kommen immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wir zeigen an diesem Fall, wie wichtig es gerade deshalb ist, fรผr sein Recht einzustehen und ablehnende Bescheide nicht einfach hinzunehmen.

Grad der Behinderung von 100, Autismus und Zwangsstรถrung

Der Betroffene leidet seit vielen Jahren unter einer Zwangsstรถrung, einer posttraumatischen Belastungsstรถrung und einer Stรถrung aus dem Autismus-Spektrum. ร„rztliche Diagnosen umfassen zudem paranoide Schizophrenie, ร„ngste und Depressionen. Er ist seit vielen Jahren anerkannt schwerbehindert, und das inzwischen mit dem hรถchst mรถglichen Grad von 100.

Bei derart schweren Beeintrรคchtigungen erscheint es eigenlich offensichtlich, dass er zumindest einen Pflegegrad von 2 erhรคlt. Erst einmal erkannte seine Pflegeversicherung diesen auch an, nahm dies spรคter allerdings zurรผck.

Gutachten sieht Voraussetzungen erfรผllt

Der Betroffene beantragte Leistungen seiner privaten Pflegeversicherung. Ein Gutachter hielt die Voraussetzungen fรผr den Pflegegrad 2 fรผr gegeben. Entscheidend waren die Punkte โ€žGestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakteโ€œ sowie โ€žVerhaltensweisen und psychische Problemlagenโ€œ. Die Versicherung bewilligte Leistungen nach Pflegegrad 2, allerdings nur befristet.

Die Befristung lag vermutlich daran, dass das Gutachten es fรผr mรถglich hielt, dass eine Langzeittherapie und umfassende Betreuung die Symptome verbessern kรถnnte.

Betroffener fordert unbefristeten Pflegegrad

Der Betroffene legte Widerspruch gegen den Bescheid ein, da er davon ausging, dass er Anspruch auf einen unbefristeten Pflegegrad 2 hรคtte. Dies begrรผndete er mit einer, in seinen Augen, falschen Einschรคtzung der Symptome.

So sei im Gutachten nicht erkannt worden, dass seine ร„ngste und Depressionen nicht in erster Linie eine psychische Stรถrung seien, sondern Symptome einer posttraumatischen Belastungsstรถrung infolge seiner Lebensgeschichte.

Die Versicherung beauftragte deshalb einen neuen Gutachter. Dieser kam รผberraschend zu einem vollkommen anderen Ergebnis, als der Betroffene erwartet hatte. Das Gutachten erkannte รผberhaupt keine Pflegebedรผrftigkeit. Die Versicherung lehnte ihm jetzt auf Basis des Zweitgutachtens Leistungen nach Pflegegrad 2 ab und forderte auรŸerdem die bereits gezahlten Leistungen zurรผck.

Sozialgericht Duisburg stimmt der Versicherung zu

Der Mann klagte vor dem Sozialgericht Duisburg, um seinen Anspruch durchzusetzen. Er argumentierte, aufgrund seiner Beeintrรคchtigungen stehe ihm seit Jahren ein Pflegegrad 2 zu.

Er erklรคrte, er sei in den letzten 40 Jahren Opfer von Mordversuchen seiner Verwandten geworden. Um ihn wegen einer Erbschaft aus dem Weg zu rรคumen, sei er in eine stationรคre Einrichtung verwiesen worden. Mehrfach hรคtte ihn seine Verwandtschaft faktisch der Obdachlosigkeit preisgegeben.

Ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten habe eine schizotype Stรถrung und paranoide Schizophrenie festgestellt. Der Sachverstรคndige habe ihn aber zu Unrecht als primรคr psychisch erkrankt gesehen. Die Versicherung verwies auf das Zweitgutachten, und das Sozialgericht Duisburg entschied gegen den Klรคger. Dabei stรผtzte es sich offensichtlich ebenfalls auf das Zweitgutachten.

Erfolg vor dem Landessozialgericht

Der Erkrankte ging in Berufung vor das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Hier hatte er schlieรŸlich Erfolg. Er hรคtte Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2, und das gelte auch rรผckwirkend.

Die Beweislast liegt bei der Versicherung

Die Entscheidung begrรผndete das Gericht vor allem mit den rechtlichen Grundlagen der Beweislast. So habe jemand, der einen Pflegegrad beantragt, die Beweislast dafรผr zu tragen, dass die dafรผr nรถtigen Voraussetzungen vorliegen.

In diesem Fall verhielte es sich jedoch anders. Die Versicherung hรคtte nรคmlich bereits einen Pflegegrad von 2 gewรคhrt. Damit hรคtte sich die Beweislast umgekehrt. Eine Leistungszusage sei nรคmlich, laut dem Bundessozialgericht, ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis (B 3 P 9/01).

Betroffener war nur mit dem Inhalt nicht vollkommen einverstanden

Dem Widerspruch des Klรคgers sei nicht zu entnehmen, dass er sich gegen die fรผr ihn gรผnstige Leistungszusage nach dem Pflegegrad 2 als solche wende. Er sei lediglich mit dem Inhalt der im Gutachten dargestellten Funktionseinschrรคnkungen nicht vollstรคndig einverstanden gewesen.

Wirksam von der Zusage lรถsen kรถnne sich die Versicherung nur, wenn es รผberzeugend darlege, dass die Voraussetzungen fรผr den Pflegegrad nicht gegeben seien. Davon sei das Gericht nicht รผberzeugt. Vielmehr erweise sich nach Auswertung aller Gutachten das Leiden des Betroffenen als vielschichtig und schwer greifbar.

Anspruch auf ร„nderung des Gutachtens ist Kennzeichen der Stรถrung

Tatsรคchlich hรคtte sich der Klรคger vor allem gegen die Diagnose โ€žAngst und Depression gemischt” gewandt, weil er den Schwerpunkt seiner Erkrankung in einer biografisch verursachten posttraumatischen Belastungsstรถrung sehe und diese als Ursache seiner ร„ngste und Einschrรคnkungen anerkannt haben mรถchte.

Das Beharren des Klรคgers auf diesem Punkt sah das Gericht gerade als spezifisch fรผr die Stรถrung des Betroffenen an.

Keine langfristige Verbesserung der Symptome

Das Zweitgutachten, das keine Pflegebedรผrftigkeit erkannte, sei nicht im geringsten รผberzeugend, da es eine zu diesem Zeitpunkt vorangegangene stationรคre Behandlung vollkommen ignoriere. Die dort im Entlassungsbericht notierte Verbesserung der Symptome sei nรคmlich weder von Dauer gewesen noch Ausdruck einer neu gewonnenen Stabilitรคt.

Was bedeutet das Urteil fรผr Betroffene

Das Landessozialgericht hat vor allem klargestellt, dass die Beurteilung der Beeintrรคchtigung durch psychische Erkrankungen akribisch erfolgen und auf die individuelle Leidensgeschichte eingehen muss, um zu einer Entscheidung zu kommen.

Dies wird in Pflegegutachten bei psychischen Erkrankungen oft unterschรคtzt. In diesem Fall ging das Gutachten, das keine Pflegebedรผrftigkeit sah, von einem Ist-Zustand aus. Dieser war allerdings unmittelbar nach der Entlassung aus einer stationรคren Therapie gegeben, hielt aber nachweislich nicht an.

Die umfassenden Auswirkungen auf den Alltag und die Selbststรคndigkeit sind hรคufig nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Umso wichtiger ist es fรผr die Betroffenen, sich einen Rechtsbeistand zu suchen und den Rechtsweg zu wรคhlen bei fragwรผrdigen Entscheidungen der Versicherung und unzureichenden Gutachten.