Ein Mensch mit diversen psychiatrischen Diagnosen und einem Grad der Behinderung von 100 bezog eine volle Erwerbsminderungsrente. Er beanspruchte einen Pflegegrad, den die Pflegeversicherung zunächst gewährte, dann aber verweigerte. Vor dem Landesgericht Nordrhein-Westfalen konnte er seinen Anspruch durchsetzen. (L 5 P 75/23)
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Pflegegrad 2 bewilligt, dann wieder entzogen
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat eine Entscheidung getroffen, die Pflegebedürftigen mit psychischen Erkrankungen den Rücken stärkt und eine gewisse Rechtssicherheit bringt. Es entschied zugunsten eines Betroffenen, dem zuerst Leistungen des Pflegegrades 2 zugesprochen, dann aber wieder entzogen wurden.
Pflegegrad bei psychischen Krankheiten
Die Gutachten, um einen Pflegegrad festzustellen, sind bei psychischen Erkrankungen für Laien oft schwer zu durchschauen.
Die Bewertung ist meist komplizierter als bei körperlichen Leiden, und Fachmediziner kommen immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wir zeigen an diesem Fall, wie wichtig es gerade deshalb ist, für sein Recht einzustehen und ablehnende Bescheide nicht einfach hinzunehmen.
Grad der Behinderung von 100, Autismus und Zwangsstörung
Der Betroffene leidet seit vielen Jahren unter einer Zwangsstörung, einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Störung aus dem Autismus-Spektrum. Ärztliche Diagnosen umfassen zudem paranoide Schizophrenie, Ängste und Depressionen. Er ist seit vielen Jahren anerkannt schwerbehindert, und das inzwischen mit dem höchst möglichen Grad von 100.
Bei derart schweren Beeinträchtigungen erscheint es eigenlich offensichtlich, dass er zumindest einen Pflegegrad von 2 erhält. Erst einmal erkannte seine Pflegeversicherung diesen auch an, nahm dies später allerdings zurück.
Gutachten sieht Voraussetzungen erfüllt
Der Betroffene beantragte Leistungen seiner privaten Pflegeversicherung. Ein Gutachter hielt die Voraussetzungen für den Pflegegrad 2 für gegeben. Entscheidend waren die Punkte „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“ sowie „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“. Die Versicherung bewilligte Leistungen nach Pflegegrad 2, allerdings nur befristet.
Die Befristung lag vermutlich daran, dass das Gutachten es für möglich hielt, dass eine Langzeittherapie und umfassende Betreuung die Symptome verbessern könnte.
Betroffener fordert unbefristeten Pflegegrad
Der Betroffene legte Widerspruch gegen den Bescheid ein, da er davon ausging, dass er Anspruch auf einen unbefristeten Pflegegrad 2 hätte. Dies begründete er mit einer, in seinen Augen, falschen Einschätzung der Symptome.
So sei im Gutachten nicht erkannt worden, dass seine Ängste und Depressionen nicht in erster Linie eine psychische Störung seien, sondern Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung infolge seiner Lebensgeschichte.
Die Versicherung beauftragte deshalb einen neuen Gutachter. Dieser kam überraschend zu einem vollkommen anderen Ergebnis, als der Betroffene erwartet hatte. Das Gutachten erkannte überhaupt keine Pflegebedürftigkeit. Die Versicherung lehnte ihm jetzt auf Basis des Zweitgutachtens Leistungen nach Pflegegrad 2 ab und forderte außerdem die bereits gezahlten Leistungen zurück.
Sozialgericht Duisburg stimmt der Versicherung zu
Der Mann klagte vor dem Sozialgericht Duisburg, um seinen Anspruch durchzusetzen. Er argumentierte, aufgrund seiner Beeinträchtigungen stehe ihm seit Jahren ein Pflegegrad 2 zu.
Er erklärte, er sei in den letzten 40 Jahren Opfer von Mordversuchen seiner Verwandten geworden. Um ihn wegen einer Erbschaft aus dem Weg zu räumen, sei er in eine stationäre Einrichtung verwiesen worden. Mehrfach hätte ihn seine Verwandtschaft faktisch der Obdachlosigkeit preisgegeben.
Ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten habe eine schizotype Störung und paranoide Schizophrenie festgestellt. Der Sachverständige habe ihn aber zu Unrecht als primär psychisch erkrankt gesehen. Die Versicherung verwies auf das Zweitgutachten, und das Sozialgericht Duisburg entschied gegen den Kläger. Dabei stützte es sich offensichtlich ebenfalls auf das Zweitgutachten.
Erfolg vor dem Landessozialgericht
Der Erkrankte ging in Berufung vor das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Hier hatte er schließlich Erfolg. Er hätte Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2, und das gelte auch rückwirkend.
Die Beweislast liegt bei der Versicherung
Die Entscheidung begründete das Gericht vor allem mit den rechtlichen Grundlagen der Beweislast. So habe jemand, der einen Pflegegrad beantragt, die Beweislast dafür zu tragen, dass die dafür nötigen Voraussetzungen vorliegen.
In diesem Fall verhielte es sich jedoch anders. Die Versicherung hätte nämlich bereits einen Pflegegrad von 2 gewährt. Damit hätte sich die Beweislast umgekehrt. Eine Leistungszusage sei nämlich, laut dem Bundessozialgericht, ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis (B 3 P 9/01).
Betroffener war nur mit dem Inhalt nicht vollkommen einverstanden
Dem Widerspruch des Klägers sei nicht zu entnehmen, dass er sich gegen die für ihn günstige Leistungszusage nach dem Pflegegrad 2 als solche wende. Er sei lediglich mit dem Inhalt der im Gutachten dargestellten Funktionseinschränkungen nicht vollständig einverstanden gewesen.
Wirksam von der Zusage lösen könne sich die Versicherung nur, wenn es überzeugend darlege, dass die Voraussetzungen für den Pflegegrad nicht gegeben seien. Davon sei das Gericht nicht überzeugt. Vielmehr erweise sich nach Auswertung aller Gutachten das Leiden des Betroffenen als vielschichtig und schwer greifbar.
Anspruch auf Änderung des Gutachtens ist Kennzeichen der Störung
Tatsächlich hätte sich der Kläger vor allem gegen die Diagnose „Angst und Depression gemischt” gewandt, weil er den Schwerpunkt seiner Erkrankung in einer biografisch verursachten posttraumatischen Belastungsstörung sehe und diese als Ursache seiner Ängste und Einschränkungen anerkannt haben möchte.
Das Beharren des Klägers auf diesem Punkt sah das Gericht gerade als spezifisch für die Störung des Betroffenen an.
Keine langfristige Verbesserung der Symptome
Das Zweitgutachten, das keine Pflegebedürftigkeit erkannte, sei nicht im geringsten überzeugend, da es eine zu diesem Zeitpunkt vorangegangene stationäre Behandlung vollkommen ignoriere. Die dort im Entlassungsbericht notierte Verbesserung der Symptome sei nämlich weder von Dauer gewesen noch Ausdruck einer neu gewonnenen Stabilität.
Was bedeutet das Urteil für Betroffene
Das Landessozialgericht hat vor allem klargestellt, dass die Beurteilung der Beeinträchtigung durch psychische Erkrankungen akribisch erfolgen und auf die individuelle Leidensgeschichte eingehen muss, um zu einer Entscheidung zu kommen.
Dies wird in Pflegegutachten bei psychischen Erkrankungen oft unterschätzt. In diesem Fall ging das Gutachten, das keine Pflegebedürftigkeit sah, von einem Ist-Zustand aus. Dieser war allerdings unmittelbar nach der Entlassung aus einer stationären Therapie gegeben, hielt aber nachweislich nicht an.
Die umfassenden Auswirkungen auf den Alltag und die Selbstständigkeit sind häufig nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Umso wichtiger ist es für die Betroffenen, sich einen Rechtsbeistand zu suchen und den Rechtsweg zu wählen bei fragwürdigen Entscheidungen der Versicherung und unzureichenden Gutachten.