Als Berliner Parteigliederungen kürzlich offenlegten, für kaum mehr als den Preis eines Großstadt‐Cappuccinos pro tausend Datensätze fast 300 000 Bürgeradressen beim Einwohnermeldeamt erworben zu haben, reagierte die Öffentlichkeit mit sichtbarer Irritation. Die Enthüllung ist kein Einzelfall, sondern hat System. Dabei gingen die Bürger bisland davon, dass ein Schutz persönlicher Daten staatlicher Seits besteht. Dem ist offenbar nicht so.
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Bundesmeldegesetz erlaubt die Weitergabe persönlicher Daten
Rechtsgrundlage des Verkaufs ist § 50 Bundesmeldegesetz (BMG). Er gestattet Meldebehörden, Name, jetzige Anschrift, gegebenenfalls frühere Vornamen, den akademischen Grad und sogar den Sterbevermerk eines Bürgers an Parteien, Wählergruppen, Presseorgane, Kirchen, die Bundeswehr und Adressbuchverlage weiterzugeben, sofern eine Wahl oder Abstimmung ansteht.
Der Staat hat damit – ausdrücklich vom Gesetzgeber gewollt – ein Datenökosystem geschaffen, das politischer Willensbildung dienen soll, in der Praxis aber weit darüber hinausreicht.
Wer profitiert konkret von dem preiswerten Adresszugriff?
Parteien und Wählergruppen erhalten in den sechs Monaten vor einem Urnengang Alterssegmente, die für ihren Wahlkampf strategisch relevant sind. Gemeinnützige Initiativen greifen auf Adresslisten zu, um Unterstützer zu mobilisieren, Medienunternehmen nutzen sie für Recherchen, Glaubensgemeinschaften für ihre Seelsorge, während die Bundeswehr junge Erwachsene anspricht.
All diese Stellen zahlen an die Kommune – doch der Tarif variiert von Stadt zu Stadt und ist häufig ein Bruchteil dessen, was jeder Privatbürger bei einer Einzelanfrage entrichten müsste.
Wie billig sind Namen und Anschriften wirklich?
Nach Berechnungen der Frankfurter Steueranwältin Patricia Lederer kostete eine Adresse in Berlin bei der letzten Bundestagswahl umgerechnet einen Cent.
In München waren es zehn Cent, in Frankfurt vier. Gleichzeitig verlangt dasselbe Amt für eine einfache Melderegisterauskunft, die ein Gläubiger oder ein Rechtsanwalt beantragt, pauschal zehn Euro pro Person – ein Preis, den Berlin, Hannover oder München in ihren Gebührenordnungen bestätigen.
Zwischen politischem Datenpaket und individueller Rechtsauskunft liegen somit zwei Größenordnungen Preisunterschied.
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Welche Schutzmöglichkeiten sieht das Gesetz für Betroffene vor?
Das BMG räumt Bürgerinnen und Bürgern das Recht ein, der Gruppenauskunft nach § 50 zu widersprechen. Der Widerspruch muss schriftlich bei der zuständigen Meldebehörde eingehen; erst dann gilt eine Übermittlungssperre.
Wer sicher sein will, dass seine Daten nicht längst weitergegeben sind, kann zusätzlich eine Selbstauskunft verlangen. Datenschützer empfehlen, beides periodisch zu kombinieren, weil Meldestellen eine geteilte Adresse nicht zurückrufen, sondern höchstens künftige Übermittlungen unterlassen.
Weshalb erinnert das Verfahren an die elektronische Patientenakte?
Der Mechanismus gleicht dem Opt-out-Modell der elektronischen Patientenakte (ePA). Auch dort werden sensible Informationen – diesmal Gesundheitsdaten – standardmäßig zentral gespeichert; wer das nicht möchte, muss aktiv widersprechen. Kritiker monieren, dass Bürgerinnen und Bürger so in Erklärungspflicht geraten und der Staat die informationelle Selbstbestimmung zur Bringschuld macht.
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Das Prinzip lautet: Schweigen gilt als Zustimmung, selbst wenn die Betroffenen von der Möglichkeit des Schweigens kaum wissen.
Welche Parallelen gibt es zur umstrittenen Grundsteuerreform?
Kommunen argumentieren, der Adressverkauf schaffe Einnahmen, die den Haushalt entlasten – ein Ziel, das gegenwärtig auch die Anhebung von Grundsteuerhebesätzen verfolgt. Eine EY-Studie zeigt, dass bereits mehr als die Hälfte aller Städte Hebesätze über 400 Prozent verlangt – Tendenz steigend.
Würden Meldeämter die politisch gewährten Centbeträge durch die marktüblichen zehn Euro einer Einzelanfrage ersetzen, läge der Mehrertrag in Berlin rechnerisch im siebenstelligen Bereich und könnte so manche Grundsteuererhöhung zumindest abmildern.
Löst ein höherer Preis das Problem oder schafft er neue?
Ein kostendeckender, einheitlicher Tarif würde den Anreiz mindern, Daten in großer Zahl anzufordern, und dennoch eine rechtliche Möglichkeit zur Kontaktaufnahme belassen.
Datenschützer bezweifeln allerdings, dass der Eingriff in Grundrechte durch einen höheren Preis verfassungsrechtlich weniger schwer wöge: Entscheidend sei nicht die Einnahme, sondern die Frage, ob staatliche Stellen ein Vermögensrecht an fremden Personendaten begründen dürfen. Damit steht die Debatte in der Tradition des Volkszählungsurteils von 1983, das dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erstmals Verfassungsrang gab.
Was bleibt nach Widerspruchsformularen und Gebührenlisten?
Öffentliche Stellen digitalisieren Bestände und entdecken deren wirtschaftliches Potenzial, während Bürgerinnen und Bürger sich fragen, wer eigentlich Herr ihrer Daten ist.
Je mehr staatliche Systeme auf Opt-out setzen, desto stärker wird die Forderung nach einem Paradigmenwechsel hin zu echter Einwilligung. Ein politischer Konsens darüber steht bislang aus.
Solange er fehlt, bleibt den Betroffenen nur der individuelle Widerspruch – und die Hoffnung, dass Transparenz und öffentlicher Druck langfristig zu strukturellen Veränderungen führen.