BA mahnt Hartz IV kritischen Mitarbeiter ab

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Versucht die Bundesagentur fรผr Arbeit einen kritischen Mitarbeiter mundtot zu machen? Ein Interview mit Marcel Kallwass

20.11.2013

Derzeit brodelt es krรคftig innerhalb der Bundesagentur fรผr Arbeit (BA). Nach der zwangsbeurlaubten Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann โ€“ wir berichteten ausfรผhrlich รผber den Fall โ€“ ging jรผngst ein weiterer Angestellter der BA, Marcel Kallwass, mit seiner Kritik an der BA und Hartz IV an die ร–ffentlichkeit. Die BA reagierte prompt mit einer Abmahnung. Wir sprachen mit Herrn Kallwass รผber sein Engagement.

Gegen-Hartz: Sie absolvieren derzeit ein berufsbegleitendes Studium an der Hochschule der Bundesagentur fรผr Arbeit (BA) in Mannheim. Vor wenigen Tagen haben Sie eine Abmahnung der BA erhalten. Wie gehen Sie damit um?
Marcel Kallwass: Da ich diese Reaktion schon seit lรคngerem erwarte, kann ich mit der Abmahnung relativ gelassen umgehen. Ich sehe es als Bestรคtigung meines politischen Protests. Ich glaube auch, dass die BA jetzt Angst hat, dass sich noch mehr interne Mitarbeiterinnen diesem Protest anschlieรŸen und auch wieder mehr Erwerbslose protestieren.

Wie begrรผndet die BA die Abmahnung?
Mein Arbeitgeber schreibt, dass ich die Grenzen der freien MeinungsรคuรŸerung รผberschritten hรคtte, da ich der Behรถrde durch meine Aktivitรคten schade. AuรŸerdem befรผrchten sie, dass ich Meinungen von Mitarbeiterinnen oder sensible Daten von Erwerbslosen herausgeben kรถnnte. Zusรคtzlich wird mir vorgeworfen, dass ich den Betrieb der Hochschule stรถre, wenn ich dort u.a. Flugblรคtter verteile.

Rechnen Sie mit einer Kรผndigung des Arbeits-/Ausbildungsverhรคltnisses?
In der Abmahnung steht am Ende, dass ich mit der Kรผndigung meines Ausbildungsverhรคltnisses zu rechnen habe. Daher gehe ich schon davon aus, dass es soweit kommen kann. Ich werde auf jeden Fall weiter protestieren.

Werden Sie arbeitsrechtliche Schritte einleiten?
Darรผber werde ich noch nachdenken. Zurzeit sehe ich noch keine Notwendigkeit.

Haben Sie Solidaritรคt von Kolleginnen und Kollegen, dem Personalrat und der Gewerkschaft erfahren?
Die Gewerkschaft verdi (dort bin ich (noch) Mitglied) wird keinen Rechtsbeistand leisten. Im Gesprรคch mit dem Personalrat habe ich ein positives Signal bekommen. Wirklich viel erwarte ich von dieser Seite aber nicht. Als letztes bleiben noch Kolleginnen und Kollegen. Von dieser Seite habe ich bereits Solidaritรคt bekommen. Viele finden es mutig, dass ich mich traue meine Meinung so offen zu sagen.

Welche Erfahrungen und Erlebnisse aus Ihrem Arbeitsalltag haben Sie maรŸgeblich dazu veranlasst, die BA und Ihr Vorgehen รถffentlich zu kritisieren?
Ich habe gemerkt, dass die Zahlen eine immens wichtige Rolle im Arbeitsalltag spielen. In fast jeder Teamsitzung geht es darum, wie die Zahlen (Vermittlungen, etc.) verbessert werden kรถnnen. Durch das Zielsystem wird ein enorm hoher Druck auf die Beschรคftigten ausgeรผbt. Dieser Druck wird manchmal an die Erwerbslosen weitergegeben. Ich habe viele Gesprรคche mitbekommen, bei denen direkt Leiharbeit angeboten wurde, obwohl die Betroffenen dies gar nicht wollten (Leiharbeit ist besonders im Bereich Ulm sehr verbreitet). Ich konnte Gesprรคche in der Leistungsbearbeitung miterleben, in denen es um Sperrzeiten ging (aus verschiedenen Grรผnden wird das Arbeitslosengeld eine Zeit lang gar nicht ausbezahlt). Dann war ich auch im Jobcenter unterwegs. Diese Erfahrungen dort haben alles getoppt. Besonders schockierend war ein Gesprรคch, in dem eine Sanktion ausgesprochen wurde. Dabei hat die Vermittlerin die Betroffene auf รœbelste heruntergemacht. Von der Wรผrde des Menschen war da nichts zu spรผren!

Was sind Ihre Hauptkritikpunkte am Hartz IV-System?
Die Menschen, die von der Wirtschaft ausgeschlossen werden, werden als Schuldige betrachtet. Sie sind angeblich schuld, dass sie erwerbslos sind. Die allgemeine Auffassung ist, dass, wenn die Erwerbslosen sich nur anstรคndig bewerben und alle Vorgaben der Jobcenter erfรผllen, dass sie dann eine Arbeitsstelle finden wรผrden.

Die Masterlรถsung der Jobcenter heiรŸt fรผr alle Menschen: Erwerbstรคtigkeit. Hauptsache irgendeine Arbeit. Ob das ein 1โ‚ฌ-Job, ein 450โ‚ฌ-Job, Leiharbeit oder eine gut bezahlte Stelle ist, ist oftmals zweitrangig. Zudem geht die Masterlรถsung generell nicht auf, weil es ca. 6 mio. Erwerbslose gibt und nur 1 mio. offene Stellen. D.h. selbst, wenn alle Erwerbslosen bundesweit mobil wรคren und allen Pflichten der Jobcenter nachkommen wรผrden, wรคren mindestens 5 mio. erwerbslos!

Zudem verfรผgt das Jobcenter รผber extreme Druckmittel, mit denen sie diese unlogischen Forderungen durchsetzen kรถnnen. Das sind natรผrlich v.a. die Sanktionen. Menschen kรถnnen per Gesetz bis in die Obdachlosigkeit sanktioniert werden, wenn sie nicht die unlogischen Forderungen der Behรถrde Folge leisten! Das hat gar nichts mehr mit Menschenwรผrde zu tun. Das ist offensichtlich strukturelle Gewalt. V.a. ist die Wirkung der Sanktionen nicht nur auf die beschrรคnkt, bei denen es angewendet wird. Die Unterdrรผckung ist fรผr alle Erwerbslosen prรคsent. Sie sollen sich als Untergebene verhalten und klein beigeben. Das muss ein Ende haben.

Wie mรผsste ein faires Sozialsystem nach Ihrer Ansicht aussehen?
Um ein faires Leistungssystem zu bekommen mรผssen wir รผber die Ungleichheit diskutieren. Es kann nicht sein, dass 1% der Bevรถlkerung knapp ein Viertel des Vermรถgens besitzt, wรคhrend die Hรคlfte der Bevรถlkerung gerade einmal 1% besitzt.

Ein faires System kann nur dann erreicht werden, wenn wir als gesamte Bevรถlkerung endlich รผber die Wirtschaft entscheiden kรถnnen. Dafรผr mรผssen uns auch die Produktionsmittel gehรถren. Wir brauchen also eine Enteignung der privaten Unternehmen und eine Abschaffung der Banken.

Wenn es soweit ist, dann wird unsere Gesellschaft automatisch auf Gemeinschaft setzen und damit automatisch auf Fairness und Gerechtigkeit achten.

Wie kรถnnen Sie ganz konkret unterstรผtzt werden?
Mein Ziel ist es das komplette System zu revolutionieren, Hartz IV ist ein Bestandteil dessen. Jede Person also, die gegen Hartz IV sich mit anderen zusammenschlieรŸt und dagegen kรคmpft unterstรผtzt dieses Ziel. Ich hoffe einfach, dass ich mit meiner internen Kritik einigen Menschen Mut machen kann. Der Kampf lohnt sich!

Ich freu mich auch รผber Diskussionen in den Foren und auf meinem Blog. Ich freue mich natรผrlich auch, wenn Artikel weiterverbreitet werden. (Weiterverbreitung mit Link erwรผnscht!, AG)