Anspruch auf Bürgergeld bei einer vollen EM-Rente?

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Wer in Deutschland eine volle Erwerbsminderungsrente bezieht, sollte meinen, damit wirtschaftlich abgesichert zu sein. In der Praxis liegt der Zahlbetrag – vor allem bei befristeten Renten – häufig unterhalb des Existenzminimums.

Dann stellt sich die Frage, ob das Jobcenter mit dem Bürgergeld einspringt oder ob stattdessen das Sozialamt Grundsicherung leisten muss. Die Antwort hängt von einem einzigen, aber entscheidenden Kriterium ab: ob die Erwerbsminderung als dauerhaft gilt.

Bürgergeld: Grundsicherung für Erwerbsfähige

Das Bürgergeld löste Anfang 2023 das frühere Arbeitslosengeld II ab und bildet seitdem die steuerfinanzierte Grundsicherung für Personen, die grundsätzlich arbeiten könnten, deren Einkommen und Vermögen aber nicht ausreichen.

Rechtsgrundlage ist § 19 Absatz 1 Satz 1 SGB II, der einen Anspruch für „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ formuliert. Zum 1. Januar 2025 beträgt der Regelbedarf für alleinstehende Erwachsene weiterhin 563 Euro pro Monat; Unterkunfts- und Heizkosten werden gesondert übernommen.

Erwerbsfähigkeit aus sozialrechtlicher Sicht

Ob jemand als erwerbsfähig gilt, bestimmt § 8 Absatz 1 SGB II. Danach ist jede Person erwerbsfähig, die nicht wegen Krankheit oder Behinderung „auf absehbare Zeit“ außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten.

Wird diese Drei-Stunden-Grenze unterschritten, entfällt die Erwerbsfähigkeit – und damit grundsätzlich der Zugang zum Bürgergeld.

Die volle Erwerbsminderungsrente: Befristet oder von Dauer?

Die Rentenversicherung stellt die Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI fest. Eine volle Erwerbsminderung kann zeitlich begrenzt – etwa nach schweren Operationen oder während einer Reha-Phase – oder auf Dauer bestätigt werden, wenn die Leistungsfähigkeit nachhaltig unter drei Stunden pro Tag liegt. In den Rentenbescheiden wird deutlich zwischen befristeten Leistungen („Erwerbsminderungsrente auf Zeit“) und unbefristeten Renten unterschieden.

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Grundsicherung nach SGB XII: Wenn die Erwerbsminderung dauerhaft ist

Greift der Gutachter der Rentenversicherung zur Formulierung „volle Erwerbsminderung auf Dauer“, wechselt der Leistungsträger: Zuständig ist dann das Grundsicherungs- oder Sozialamt.

Das ergibt sich aus § 41 Absatz 3 SGB XII, der Personen mit dauerhafter voller Erwerbsminderung ausdrücklich als leistungsberechtigt für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nennt.

Damit ist das Bürgergeld ausgeschlossen, weil § 19 Absatz 1 Satz 2 SGB II für nichterwerbsfähige Personen in einer Bedarfsgemeinschaft nur dann Bürgergeld vorsieht, wenn kein Anspruch nach diesem vierten Kapitel des SGB XII besteht.

Zuständigkeitskonflikte zwischen Jobcenter und Sozialamt

In der Beratungspraxis entstehen Reibungsverluste, wenn die Rentenversicherung zwar eine volle Erwerbsminderung feststellt, diese aber – wie häufig – zunächst nur befristet ausspricht. Das Jobcenter muss in diesem Fall einspringen, denn eine zeitlich begrenzte Erwerbsminderung gilt sozialrechtlich als vorübergehend.

Erst mit einer unbefristeten Feststellung wechselt die Zuständigkeit. Betroffene geraten dadurch nicht selten „zwischen die Stühle“, wenn beide Behörden die Verantwortung jeweils bei der anderen sehen.

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Anrechnung der Rente und Höhe der Leistungen

Sowohl im Bürgergeld als auch in der Grundsicherung wird die Erwerbsminderungsrente als Einkommen berücksichtigt. Die Systeme sind indes unterschiedlich ausgestaltet:

Beim Bürgergeld werden Freibeträge erst oberhalb von 100 Euro Monatsrente relevant; der darüberliegende Teil wird zu 80 Prozent angerechnet, sofern die Rente als Erwerbseinkommen gilt.

In der Grundsicherung mindert jede Rentenzahlung oberhalb eines geringen Grundfreibetrags den Leistungsanspruch fast vollständig.
Trotz identischer Regelsätze bedeutet das in der Praxis, dass die Gesamtsumme aus Rente und Sozialleistung im Bürgergeldbezug häufig etwas höher ausfallen kann als in der Grundsicherung.

Ein Beispiel aus der Praxis: Frau M. und die wechselnde Zuständigkeit

Frau M., 48 Jahre, erleidet nach einem Unfall schwere Wirbelsäulenverletzungen. Die Deutsche Rentenversicherung erkennt zunächst eine volle Erwerbsminderung auf Zeit an und bewilligt ihr für zwei Jahre eine befristete Erwerbsminderungsrente von monatlich 620 Euro netto.

Weil diese Summe ihre Miete und den Lebensunterhalt nicht deckt, beantragt sie beim Jobcenter ergänzendes Bürgergeld. Dort werden ihre Wohnkosten übernommen; der Regelbedarf wird um die anrechenbare Rente gekürzt, sodass sie insgesamt auf das gesetzliche Existenzminimum kommt.

Kurz vor Ablauf der Befristung begutachtet die Rentenversicherung Frau M. erneut und stellt fest, dass ihre Leistungsfähigkeit dauerhaft unter drei Stunden täglich bleibt.

Die Rente wird unbefristet weitergezahlt. Damit endet zugleich ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne des SGB II. Das Jobcenter verweist sie nun an das Sozialamt, wo sie Grundsicherung nach SGB XII beantragt.

Dank lückenloser Bescheide gehen die Zahlungen ohne Unterbrechung weiter, jedoch fällt das monatliche Gesamteinkommen geringfügig niedriger aus, weil in der Grundsicherung weniger Freibeträge gelten.

Dieses Beispiel zeigt, wie sich allein durch den Übergang von einer befristeten zu einer dauerhaften Erwerbsminderungsrente die Zuständigkeit und die Höhe der ergänzenden Leistung ändern können – und warum Betroffene jede Entscheidung der Rentenversicherung sofort an das richtige Amt weiterleiten sollten.

Handlungsstrategien für Betroffene

Wer eine befristete volle Erwerbsminderungsrente erhält und seinen Lebensunterhalt nicht decken kann, sollte sich an das örtliche Jobcenter wenden und Bürgergeld beantragen. Sollte das Jobcenter die Zuständigkeit verweigern, lohnt sich ein schriftlicher Antrag, denn ein ablehnender Bescheid eröffnet den Weg zum Widerspruch und notfalls zur Klage.

Wird die Rente nach mehreren Verlängerungen schließlich dauerhaft bewilligt, ist zeitnah ein Grundsicherungsantrag beim Sozialamt erforderlich, um Zahlungslücken zu vermeiden.

Ratsam ist es, das Jobcenter während des laufenden Rentenprüfungsverfahrens über jede Entscheidung der Rentenversicherung zu informieren.

Für Betroffene bleibt es wichtig, den Status ihrer Erwerbsminderung genau zu kennen und fristgerecht den richtigen Antrag zu stellen. Nur so lässt sich verhindern, dass der ohnehin knappe Zahlbetrag der Rente in bürokratischen Mühlen untergeht.