Bürgergeld: Schlichtungsverfahren soll zugunsten der Jobcenter abgeschafft werden

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Die geplante „Neue Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist ein tiefer Einschnitt im deutschen Sozialstaat. Neben schärferen Sanktionen, strengeren Mitwirkungspflichten und einer neuen Vermögensprüfung soll ein Instrument fallen, das erst 2023 mit dem Bürgergeld eingeführt wurde: das Schlichtungsverfahren nach § 15a SGB II.

Künftig soll es bei Konflikten zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten nicht mehr zur vermittelnden Klärung kommen, sondern zu verbindlichen Verwaltungsakten mit Sanktionsdrohung.

Hintergrund: Vom Bürgergeld zur „Neuen Grundsicherung“

Mit dem 13. Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (13. SGB-II-Änderungsgesetz) will die Bundesregierung das Bürgergeld in eine „Neue Grundsicherung für Arbeitsuchende“ überführen. Der Systemwechsel ist gewollt: Bundeskanzler Friedrich Merz kündigte an, das „Kapitel Bürgergeld“ sei beendet; künftig solle nur noch von der neuen Grundsicherung gesprochen werden.

Der Gesetzentwurf sieht härtere Sanktionen, eine strengere Zumutbarkeit von Arbeit – etwa die Pflicht zur Vollzeitbeschäftigung für viele Alleinstehende – sowie eine verschärfte Vermögensprüfung vor. Laut Berichten soll die Reform nach derzeitigem Stand Mitte 2026 in Kraft treten.

Die Bundesregierung begründet die Neuausrichtung mit dem Ziel, Arbeitsaufnahme stärker zu fördern, vermeintliche „Mitnahmeeffekte“ zu begrenzen und die Verwaltung effizienter zu machen. Kritikerinnen und Kritiker sehen dagegen eine Abkehr von der Idee eines unterstützenden Sozialstaates hin zu einem System, das stärker auf Druck, Kontrolle und Leistungskürzungen setzt.

Was das Schlichtungsverfahren bisher leisten sollte

Das Schlichtungsverfahren wurde mit der Bürgergeld-Reform 2023 eingeführt. Es knüpft unmittelbar an den Kooperationsplan an – das Instrument, das die frühere Eingliederungsvereinbarung ersetzen sollte. Während die Eingliederungsvereinbarung ein rechtsverbindlicher Vertrag mit Sanktionsdrohung war, sollte der Kooperationsplan ein gemeinsamer, nicht sanktionsbewehrter Fahrplan in Richtung Arbeit sein.

Wenn sich Integrationsfachkräfte und Leistungsberechtigte bei der Erstellung oder Fortschreibung dieses Kooperationsplans nicht einigen konnten, sollte das Schlichtungsverfahren nach § 15a SGB II helfen.

Nach Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit ist dafür eine bisher unbeteiligte, unabhängige Person vorgesehen, die nicht an Weisungen gebunden ist und in einem moderierten Gespräch mit beiden Seiten einen Lösungsvorschlag erarbeitet.

Während der Schlichtung sind Leistungsminderungen ausgeschlossen, die Teilnahme ist freiwillig, und das Verfahren endet mit einer Einigung oder spätestens nach vier Wochen.

Die Idee dahinter war, Konflikte frühzeitig und außergerichtlich zu entschärfen und eine Beratung „auf Augenhöhe“ zu ermöglichen, bevor es zu Bescheiden, Widersprüchen und Klagen kommt.

Warum die Regierung das Verfahren infrage stellt

Tatsächlich zeigt die erste Bilanz: Das Schlichtungsverfahren wird bislang selten genutzt. Eine Auswertung, auf die die Fachzeitschrift „ZKM-Report“ Bezug nimmt, kommt für den Zeitraum von Juli 2023 bis Januar 2025 auf bundesweit nur rund 200 dokumentierte Verfahren in 87 von etwa 300 Jobcentern in gemeinsamer Trägerschaft.

Viele Betroffene wissen offenbar gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. Auch die begrenzte Reichweite – das Verfahren greift nur bei Konflikten rund um den Kooperationsplan, nicht bei Streit über konkrete Leistungen – schränkt seinen Einsatz ein.

Zudem organisieren die Jobcenter das Verfahren sehr unterschiedlich; die Mehrheit setzt interne Schlichter ein, in deutlich weniger Fällen übernehmen externe Stellen diese Rolle.

In diesem Befund sieht die Bundesregierung offenbar einen Ansatzpunkt. Aus ihrer Sicht steht ein Instrument mit hohem organisatorischen Aufwand einer vergleichsweise geringen Nutzungsquote gegenüber. Im Referentenentwurf wird auf Effizienz, klare Verantwortlichkeiten und rasch durchsetzbare Entscheidungen verwiesen, wenn es um die Neuregelung des § 15a SGB II und die Abschaffung des Schlichtungsverfahrens geht.

Was die neue Regelung vorsieht: Verpflichtungs-Verwaltungsakte statt Vermittlung

Mit der „Neuen Grundsicherung“ soll der bisherige § 15a SGB II grundlegend umgebaut werden. Nach der Entwurfsfassung gilt künftig: Das bisherige Schlichtungsverfahren wird gestrichen, an seine Stelle treten sogenannte Verpflichtungs-Verwaltungsakte.

Kommt es nicht zu einem einvernehmlichen Kooperationsplan oder hält sich eine leistungsberechtigte Person nicht an vereinbarte Schritte, kann beziehungsweise muss das Jobcenter die Pflichten der Person per Verwaltungsakt festlegen – also einseitig, mit Rechtsfolgen- und Rechtsmittelbelehrung.

Dieser Verwaltungsakt kann zum Beispiel bestimmen, welche Eigenbemühungen in welcher Anzahl nachzuweisen sind, an welchen Maßnahmen oder Sprachkursen teilzunehmen ist oder welche Tätigkeiten aufgenommen werden müssen.

Zugleich wird das Sanktionsregime verschärft: Schon beim ersten Verstoß gegen Verpflichtungen sind Abzüge von bis zu 30 Prozent des Regelbedarfs möglich, bei mehrfachen Meldeversäumnissen droht der vollständige Entzug des Regelsatzes; nach drei versäumten Terminen innerhalb eines Monats kann der Anspruch komplett entfallen.

Die Logik der Reform lautet damit: Wo früher zunächst auf Verständigung und Konfliktlösung ohne Sanktionen gesetzt wurde, greifen künftig schneller verbindliche Vorgaben mit unmittelbaren finanziellen Folgen.

Schlichtungsverfahren soll entfallen: Kritik am Verlust eines Schutzinstruments

Sozialverbände, Erwerbsloseninitiativen und Fachjuristen üben scharfe Kritik an der geplanten Streichung des Schlichtungsverfahrens. Der Verein Tacheles e. V., eine langjährige Interessenvertretung für Leistungsberechtigte, bezeichnet den Wegfall als folgenschweren Rückschritt.

In seiner Stellungnahme zum 13. SGB-II-Änderungsgesetz heißt es, das bisherige Verfahren werde ersatzlos gestrichen und durch Verpflichtungs-Verwaltungsakte ersetzt. Ohne unabhängige Schlichtung werde der Kooperationsplan von einem Instrument partnerschaftlicher Zusammenarbeit zu einem durch Sanktionen abgesicherten Pflichtenprogramm.

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Auch Gegen-Hartz.de, das die Tacheles-Stellungnahme ausführlich auswertet, warnt: Die Möglichkeit, vor einer Klage eine neutrale Klärung anzustreben, falle weg. In einem System, in dem existenzsichernde Leistungen von Verwaltungsentscheidungen abhängen, sei ein niedrigschwelliger Konfliktlösungsweg ein wichtiger Schutz. Sein Wegfall verstärke das Machtgefälle zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten.

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) kritisiert zusätzlich, dass die Reform insgesamt stärker auf schnellen Vermittlungsdruck, Vollzeitpflicht und verschärfte Sanktionen setze, statt auf echte Förderung und Qualifizierung. Aus Sicht des Verbandes drohen Drehtüreffekte zwischen instabilen Jobs und Grundsicherung – und eine Verschärfung sozialer Unsicherheit.

Folgen für Betroffene: Höhere Hürden, mehr Risiko

Für Menschen im Leistungsbezug kann der Wegfall des Schlichtungsverfahrens mehrere Konsequenzen haben.
Erstens steigen die Hürden, sich gegen aus ihrer Sicht unzumutbare oder fehlerhafte Anforderungen zu wehren.

Wer bisher Konflikte im Rahmen eines moderierten Gesprächs mit einer neutralen Person lösen konnte, muss künftig direkt Widerspruch einlegen oder vor das Sozialgericht ziehen – ein Schritt, den viele aus Angst vor Komplexität, Dauer oder Kosten scheuen.

Zweitens verschärft sich das Risiko, dass formale Fehler schwerer wiegen als die tatsächliche Mitwirkung. Der neue § 15a SGB II-E sieht vor, dass nicht nur fehlende Bemühungen, sondern auch unzureichend nachgewiesene Bemühungen sanktioniert werden können. Menschen könnten also selbst dann Kürzungen erleiden, wenn sie sich intensiv um Arbeit bemüht haben, aber die geforderte Dokumentation nicht fristgerecht oder im gewünschten Format vorlegen.

Drittens trifft das neue System besonders verletzliche Gruppen: Personen mit psychischen Erkrankungen, Menschen mit instabilen Wohnverhältnissen, Alleinerziehende mit komplexen Betreuungssituationen oder Menschen mit Sprachbarrieren.

Gerade sie haben erfahrungsgemäß Schwierigkeiten, Termine und formale Anforderungen zuverlässig einzuhalten. Wer wiederholt Einladungen versäumt, läuft Gefahr, als „nicht erreichbar“ zu gelten – mit der Folge eines vollständigen Leistungsentfalls.

In der Summe droht, dass Konflikte, die bisher im Rahmen eines moderierten Gesprächs gelöst werden konnten, entweder ungelöst bleiben oder in ein streitiges, sanktionsträchtiges Verfahren übergehen.

Passt die Reform zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts?

Besonders brisant ist die Reform im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen im SGB II vom 5. November 2019. Das Gericht hat damals klargestellt, dass Leistungskürzungen von mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs nur unter engen Voraussetzungen zulässig sind und das Existenzminimum nicht dauerhaft unterschritten werden darf.

Der neue Entwurf sieht dagegen die Möglichkeit vor, Leistungsansprüche bei mehrfachen Meldeversäumnissen vollständig zu entziehen – einschließlich der Regelleistung. Zwar gibt es Regelungen zur Übernahme der Unterkunftskosten in Bedarfsgemeinschaften, doch das Grundproblem bleibt: Für einzelne Personen kann das Existenzminimum real unterschritten werden.

Die Abschaffung des Schlichtungsverfahrens berührt zusätzlich das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Wenn niedrige, leicht zugängliche Konfliktlösungswege entfallen und Betroffene schneller mit belastenden Verwaltungsakten und Sanktionen konfrontiert sind, stellt sich die Frage, ob der Staat seiner Verantwortung zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums noch gerecht wird. Sozialverbände und Fachjuristen rechnen bereits mit erneuten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.

Auswirkungen auf Jobcenter und Verwaltungspraxis

Befürworter der Reform verweisen auf mehr Klarheit und Verbindlichkeit. Tatsächlich ist aus Verwaltungssicht ein Verfahren attraktiv, das Konflikte nicht in offene, zeitaufwendige Kooperationsprozesse, sondern in sofort wirksame Verwaltungsakte überführt.

Doch der Verzicht auf Schlichtung bedeutet nicht automatisch weniger Aufwand. Verpflichtungs-Verwaltungsakte müssen – anders als ein informeller Kompromiss im Schlichtungsverfahren – rechtssicher begründet, dokumentiert und gegebenenfalls vor Gericht verteidigt werden.

Tacheles weist darauf hin, dass hier eine erhebliche zusätzliche Bürokratie entstehen kann, weil Kooperationsplan und Verpflichtungs-Verwaltungsakte parallel nebeneinander existieren und jeweils rechtlich sauber begründet werden müssen.

Zudem ist zu erwarten, dass mehr Konflikte den Weg in Widerspruchsverfahren und vor die Sozialgerichte finden, wenn der moderierte Klärungsweg entfällt. Was kurzfristig als „Durchregieren“ erscheinen mag, kann langfristig zu mehr Verfahren, höherem Aufwand und längeren Rechtsstreitigkeiten führen – für Jobcenter ebenso wie für Betroffene.

Noch ist nichts endgültig beschlossen

Das 13. SGB-II-Änderungsgesetz befindet sich noch im parlamentarischen Verfahren. Die massive Kritik von Sozialverbänden, Beratungsstellen und Teilen der Fachöffentlichkeit hat das Thema bereits aufgeladen. Beobachter rechnen mit intensiven Debatten im Bundestag und Bundesrat, möglich sind auch Nachbesserungen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens.

Zur Diskussion stehen unterschiedliche Wege: Die Streichung des Schlichtungsverfahrens könnte zurückgenommen, seine Ausgestaltung verbessert oder durch alternative Formen unabhängiger Konfliktlösung – etwa Ombudsstellen oder obligatorische Mediation – ersetzt werden.

Ebenso ist denkbar, dass die Reichweite von Verpflichtungs-Verwaltungsakten eingeschränkt oder mit stärkeren Schutzmechanismen versehen wird, etwa durch eine ausdrückliche Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, klar definierte Härtefallregelungen und eine Begrenzung sanktionsfähiger Pflichten.

Einordnung: Worum es in der Auseinandersetzung wirklich geht

Die Frage, ob das Schlichtungsverfahren in der neuen Grundsicherung fortbesteht oder abgeschafft wird, ist mehr als eine Detailfrage des Sozialrechts. Sie berührt das Verständnis davon, wie der Staat mit Menschen in Notlagen umgeht.

Auf der einen Seite steht ein Ansatz, der auf Verbindlichkeit, rasche Eingliederung und spürbare Konsequenzen bei Verstößen setzt. Auf der anderen Seite steht die Vorstellung eines Sozialstaates, der Konflikte zunächst durch Verständigung zu lösen versucht, der unabhängige Moderation als Schutzmechanismus bietet und Sanktionen nur begrenzt einsetzt, um das Existenzminimum nicht zu gefährden.

Ob der Verzicht auf ein Schlichtungsverfahren und der Wechsel zu Verpflichtungs-Verwaltungsakten tatsächlich zu mehr Integration in Arbeit führt oder vor allem Misstrauen, Angst und Rechtsunsicherheit verstärkt, wird sich erst in der Praxis zeigen – vorausgesetzt, die Reform wird in der vorliegenden Form verabschiedet. Klar ist schon jetzt: Der Umgang mit Konflikten im Jobcenter ist ein Prüfstein dafür, wie ernst der Sozialstaat die Lebenslagen derjenigen nimmt, die auf seine Unterstützung angewiesen sind.