Schwerbehinderung: Behinderungsausgleich muss mehr sein als nur Basisversorgung – Urteil

Die Leistungen einer Krankenkasse, um die Nachteile eines Menschen mit Behinderung auszugleichen, umfassen mehr als nur die Versorgung mit dem nรถtigsten. Vielmehr entschiede, ob das Hilfsmittel erforderlich sei, um die Behinderung auszugleichen. So entschied das Landessozialgericht Hessen zugunsten eines Menschen mit Querschnittslรคhmung. (L 1 KR 65/20).

Mensch mit Querschnittslรคhmung beansprucht Handbike

Der Betroffene hatte vor dem Sozialgericht geklagt, damit die Krankenversicherung die Versorgung mit einem Handbike รผbernahm. Dabei handelt es sich um eine elektrische Rollstuhlzughilfe, die mit Handkurbeln unterstรผtzt wird und an einen Faltrollstuhl angekoppelt werden kann.

Das Gericht schreibt dazu: โ€žAm 27.11.2015 beantragte der Klรคger unter Vorlage einer รคrztlichen Verordnung, eines krankengymnastischen Befundes und eines Kostenvoranschlags der C. GmbH die Versorgung mit dem Handbike mit Elektromotor โ€ždynagil APโ€œ mit Tetra-Sonderzubehรถr zum Preis von 9.882,57 Euro.

Nach Angabe des verordnenden Arztes solle das Hilfsmittel 3 bis 4 Mal pro Woche eingesetzt werden und diene zur Besserung der Beweglichkeit und zur Teilnahme am dรถrflichen Leben.โ€œ

Die Krankenkasse hatte es abgelehnt, die Kosten fรผr dieses Hilfsmittel zu tragen. Sie begrรผndete dies damit, dass Radfahren nicht zu den Grundbedรผrfnissen eines erwachsenen Menschen gehรถre. Der Betroffene legte Widerspruch ein, und die Krankenkasse wies diesen zurรผck.

Ohne Handbike nur bis zur Grundstรผcksgrenze

Der Betroffene klagte vor dem Sozialgericht. Hier erklรคrte er, mit den vorhandenen Hilfsmitteln komme er nur bis zur Grundstรผcksgrenze. Mit dem Handbike kรถnne er jedoch den Nahbereich seiner Wohnung verlassen und die benรถtigten Lebensmittel einkaufen.

Sachverstรคndiger bestรคtigt, dass Handbike erforderlich ist

Ein Gutachten eines Sachverstรคndigen fรผhrte zusรคtzlich aus, dass das Handbike erforderlich sei, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und einem Fortschreiten der Behinderung vorzubeugen. Zudem gleiche es die Behinderung des Betroffenen aus. Das Sozialgericht entschied gegen die Krankenkasse und verpflichtete diese, das geforderte Handbike zu รผbernehmen.

Wie begrรผndet das Gericht seine Entscheidung

Die Richter erlรคuterten: โ€žAls allgemeines Grundbedรผrfnis des tรคglichen Lebens sei in Bezug auf die Mobilitรคt nur die ErschlieรŸung des Nahbereichs um die Wohnung des Versicherten anerkannt.

MaรŸgebend fรผr den von der gesetzlichen Krankenversicherung insoweit zu gewรคhrleistenden Basisausgleich sei der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter รผblicherweise noch zu FuรŸ erreiche.

Dazu hรคtten die Krankenkassen den Versicherten so auszustatten, dass sie sich nach Mรถglichkeit in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen kรถnnen, um bei einem kurzen Spaziergang โ€žan die frische Luft zu kommenโ€œ oder um die โ€“ รผblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden โ€“ Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschรคfte zu erledigen seien.โ€œ

Zwar gehe ein Handbike รผber diese grundlegenden Erfordernisse hinaus. In diesem Fall lรคgen aber besondere Umstรคnde vor. So kรถnne der Betroffene weder den Nahbereich noch darรผber hinausgehende Grundbedรผrfnisse ohne das Handbike erschlieรŸen. Dabei wรผrden ausschlieรŸlich medizinische Aspekte gelten.

Die Richter zitierten dazu aus einem medizinischen Gutachten:โ€œ Dr. D. fรผhre aus, dass sich beim Klรคger bei der Fortbewegung mit dem Rollstuhl besondere individuelle Einschrรคnkungen durch die nahezu aufgehobene Greifkraft der Hรคnde ergeben wรผrden, weshalb zum Antreiben der Greifreifen mit den Handballen ein wesentlicher Teil der Kraft eingesetzt werden mรผsse, um den notwendigen Druck auf die Greifreifen auszubauen, damit die Handballen nicht auf den Greifreifen rutschen wรผrden.

Daher kรถnne zum Antrieb mit den Armen auch nur ein eingeschrรคnkter Winkelbereich genutzt werden, weshalb der Klรคger im Vergleich zu einem โ€žgreiffรคhigen Rollstuhlfahrerโ€œ die eingesetzte Kraft nur zu einem deutlich geringeren Anteil in Vortrieb umsetzen kรถnne.

Da der Greifring der Rรคder nicht gegriffen, sondern jeweils nur mit den Handballen geschoben werden kรถnne, sei nur ein einfaches stoรŸweises Vorantreiben des Rollstuhls mรถglich.โ€œ

Krankenkasse legt Berufung ein und scheitert

Die Krankenkasse akzeptierte das Urteil nicht und legte Berufung vor dem Landessozialgericht ein. Diese blieb erfolglos. Auch die Richter in der zweiten Instanz hielten das Handbike fรผr ebenso erforderlich wie wirtschaftlich.

Behinderungsausgleich bedeutet nicht unbedingt Minimalversorgung

Sie argumentierten folgendermaรŸen: โ€žDer Anspruch auf ein Hilfsmittel (โ€ฆ) zum Behinderungsausgleich ist nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung (โ€ฆ) beschrรคnkt.

Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang auch dann in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beitrรคgt oder zumindest maรŸgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschlieรŸen.โ€œ

Dies sei beim Handbike der Fall, und deshalb wurde die Rentenkasse verpflichtet, dieses Hilfsmittel zu รผbernehmen.