Schwerbehinderung: Gerichtslinie bestätigt – Diagnosen alleine reichen nicht

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Ein Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Az. L 13 SB 122/12) liefert klare Leitlinien für die Bewertung des Grades der Behinderung und des Merkzeichens G: Maßstab sind die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG). Entscheidend ist die funktionale Einschränkung im Alltag, nicht die bloße Diagnose.

Urteil im Überblick: Kernaussage und Ergebnis

Das Gericht bestätigte die VMG als verbindlichen Referenzrahmen. Der Kläger wollte einen höheren GdB und das Merkzeichen „G“. Der bereits festgestellte Gesamt-GdB von 50 blieb bestehen. Das Merkzeichen „G“ wurde nicht zuerkannt. Ausschlaggebend war die fehlende ärztlich belastbare Begründung für eine erheblich eingeschränkte Gehfähigkeit. Subjektive Beschwerden reichten nicht.

GdB-Bewertung folgt den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen

Die VMG geben die medizinischen Bewertungsmaßstäbe vor. Behörden ordnen jede dauerhafte Gesundheitsstörung einem Funktionssystem zu. Sie vergeben dafür einen Einzel-GdB. So entsteht eine nachvollziehbare Einstufung. Für Sie bedeutet das: Ärztliche Berichte sollten VMG-Kriterien benennen und funktionale Auswirkungen präzise beschreiben.

So entsteht der Gesamt-GdB in drei Schritten

Zuerst werden alle nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen festgestellt. Dann erfolgt die Zuordnung zu den VMG-Funktionssystemen mit Einzel-GdB. Anschließend bildet die Behörde den Gesamt-GdB. Dabei prüft sie, ob sich Auswirkungen decken, verstärken oder unabhängig bleiben. Leichte Zusatzbefunde mit GdB 10 – oft auch 20 – erhöhen den Gesamt-GdB meist nicht. Viele Diagnosen addieren sich daher nicht automatisch.

Beweise zählen: „Tatrichterliche Aufgabe“ der Gerichte

Gerichte würdigen die medizinische Lage eigenständig. Sie sind an Vorschläge von Sachverständigen nicht gebunden. Maßgeblich ist, wie sich Einschränkungen auf die Teilhabe auswirken. Subjektive Angaben genügen nicht. Benötigt werden belastbare, aktuelle und funktionsbezogene Befunde. Dazu zählen Leistungstests, Bildgebung, Laborwerte, standardisierte Assessments und konsistente Verlaufsberichte.

Merkzeichen „G“: Maßstab und typische Hürden

„G“ setzt eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr voraus. Als Orientierung dienen etwa zwei Kilometer in rund 30 Minuten. Regelmäßig sind gravierende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen oder der Lendenwirbelsäule erforderlich – oder gleichwertige Auswirkungen innerer Leiden.

Beschwerden der Arme oder Schultern tragen „G“ in der Regel nicht. Bei Herz-, Lungen- oder neurologischen Erkrankungen kommt es auf objektiv messbare Belastbarkeit an.

Aktueller Rechtsrahmen seit der Neuordnung des SGB IX

Das Feststellungsverfahren zum GdB ist heute in § 152 SGB IX geregelt. Die medizinischen Maßstäbe ergeben sich weiterhin aus der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und den VMG. Nachteilsausgleiche wie „G“ richten sich ebenfalls nach SGB IX und VMG. Die im Urteil bestätigten Grundsätze gelten damit unverändert.

Praxisbeispiele: So wird aus Diagnosen eine tragfähige Begründung

Ein instabiles Knie- oder Hüftleiden kann „G“ stützen, wenn die Wegstrecke im Ortsverkehr nur unter erheblichen Schwierigkeiten bewältigt wird. Bei Herzinsuffizienz ist die Leistungsstufe entscheidend und muss diagnostisch belegt sein. Bei Atemwegserkrankungen sind Lungenfunktion, Belastungstests und Sauerstoffbedarf wichtig.

Bei neurologischen Leiden zählen Gleichgewicht, Koordination und Sturzrisiko. Bei Schmerzsyndromen geht es um objektivierbare Funktionsdefizite und deren Dauer.

Häufige Fehler in Anträgen und Widersprüchen

Betroffene reichen oft Diagnoselisten ein, aber keine funktionsbezogenen Nachweise. Oder sie nutzen alte Befunde, die die aktuelle Leistungsfähigkeit nicht abbilden. Ebenfalls problematisch sind widersprüchliche Arztberichte. Stimmen Sie Unterlagen ab, schaffen Sie Klarheit und Aktualität. Bitten Sie Behandler um VMG-konforme Einschätzungen mit nachvollziehbarer Begründung.

So bereiten Sie Ihren Antrag strukturiert vor

Führen Sie drei Wochen ein Belastungstagebuch. Dokumentieren Sie Gehstrecken, Pausen, Schmerzniveau, Hilfsmittel und Nebenwirkungen. Bitten Sie um Leistungstests wie 6-Minuten-Gehtest, Treppensteigen und Gangbildanalyse. Lassen Sie Befunde mit VMG-Bezug formulieren. Fordern Sie bei inneren Leiden eine Einordnung der Schweregrade und deren Alltagseffekte.

Bereits anerkannter GdB: Wann eine Höherstufung greift

Eine Erhöhung setzt eine wesentliche Änderung voraus. Diese muss den Gesamt-GdB um mindestens zehn Punkte verschieben. Neue Einzelbefunde mit GdB 10 bleiben meist ohne Einfluss. Konzentrieren Sie sich daher auf starke, alltagsrelevante Einschränkungen. Legen Sie Widerspruch nur mit neuen, belastbaren Nachweisen ein.

Handlungsempfehlung für Betroffene

Richten Sie Ihren Antrag strikt an den VMG aus. Sammeln Sie fundierte, aktuelle und funktionsbezogene Befunde. Beantragen Sie „G“ nur, wenn die Geh- und Stehfähigkeit erheblich eingeschränkt ist und dies messbar belegt ist. Prüfen Sie Bescheide auf eine nachvollziehbare Gesamtwürdigung. Ziehen Sie bei Bedarf eine Zweitmeinung hinzu.