Die Ausgangslage klingt banal, hat aber weitreichende Folgen: Als der Familienvater im Februar 2021 eine Stelle als Verkäufer antrat, legte die Familie dem Berliner Jobcenter korrekt einen Arbeitsvertrag über 1 600 Euro Netto-Verdienst vor.
Bei der Einkommensanrechnung verwechselte aber das Jobcenter das Netto- mit dem Bruttoeinkommen. Dadurch rechnete das Amt ein zu niedriges fiktives Nettogehalt von rund 1 276 Euro an und gewährte der Bedarfsgemeinschaft mehrere Hundert Euro Bürgergeld pro Monat zu viel.
Erst zehn Monate später fiel der Fehler auf – da verlangte das Jobcenter mehr als 3 000 Euro zurück.
Welche gesetzlichen Regeln bestimmen über Rückforderungen?
Ob überzahlte Leistungen zurückgeholt werden dürfen, richtet sich nach § 45 SGB X. Ein Verwaltungsakt – hier der Bürgergeld-Bewilligungsbescheid – kann zwar wegen Rechtswidrigkeit zurückgenommen werden, doch genießt das Vertrauen des Begünstigten Vorrang, wenn er die Auszahlung bereits verbraucht hat, es sei denn, er kannte die Rechtswidrigkeit oder übersah sie grob fahrlässig.
Genau an dieser Schwelle entzündete sich der Streit zwischen Familie und Behörde.
Warum scheiterte die Argumentation des Jobcenters?
In erster Instanz hatte das Sozialgericht Berlin noch angenommen, jeder durchschnittlich verständige Empfänger müsse die Verwechslung von Brutto und Netto erkennen.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg widersprach: Bei den oft mehrseitigen, zahlenreichen Leistungstabellen könne von Laien keine „Detailprüfung wie von Steuerfachleuten“ verlangt werden.
Entscheidend sei die subjektive Urteils- und Kritikfähigkeit – und die Ehefrau habe glaubhaft geschildert, dass ihr die betriebswirtschaftliche Unterscheidung der Begriffe schwerfalle. Eine Pflichtverletzung außergewöhnlich hohen Ausmaßes liege daher nicht vor.
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Wie definiert das Gericht die Sorgfaltspflichten von Leistungsbeziehenden?
Der 3. Senat stellte klar: Grobe Fahrlässigkeit setzt voraus, dass die Unrichtigkeit des Bescheids „geradezu ins Auge springen“ muss. Bei komplexen Berechnungen dürfe die Verwaltung nicht unterstellen, Empfänger seien in der Lage, sämtliche Zwischenschritte nachzurechnen.
Vielmehr müsse sie ihre eigenen Fehler tragen, solange keine Täuschung, bewusste Falschangabe oder offensichtliche Widersprüche vorliegen. Diese Auslegung stärkt den sogenannten Vertrauensschutz und betont die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber Nichtjuristen.
Welche Signalwirkung hat das Urteil für andere Bürgergeld-Empfänger?
Der Beschluss dürfte künftig häufig als Referenz dienen, wenn Jobcenter Rückforderungsbescheide versenden, weil Berechnungen korrigiert wurden. Er erinnert Behörden daran, dass komplizierte Algorithmen kein Risiko zulasten der Betroffenen darstellen dürfen.
Zugleich entbindet er Leistungsempfänger nicht von der Obliegenheit, Bescheide zu lesen und offenkundige Fehler – etwa versehentlich doppelt ausgezahltes Geld – unverzüglich zu melden. Doch eine akademische Aufschlüsselung aller Freibeträge ist nicht Teil der Sorgfaltspflicht.
Kann das letzte Wort dennoch beim Bundessozialgericht liegen?
Das Urteil vom 3. April 2025 (Az. L 3 AS 772/23) ist noch nicht rechtskräftig. Innerhalb eines Monats kann das Jobcenter die Zulassung der Revision beantragen. Beobachter halten das für wahrscheinlich, weil Grundsatzfragen des Vertrauensschutzes und der Mitwirkungspflichten regelmäßig das Bundessozialgericht beschäftigen.
Eine höchstrichterliche Klärung würde bundesweit Rechtssicherheit schaffen – bis dahin bleibt das Signal des LSG jedoch deutlich.
Was raten Fachleute beim Umgang mit Bescheiden?
Rechtsberaterinnen und -berater empfehlen, jeden Bescheid sorgfältig zu prüfen oder überprüfen zu lassen. Wie das geht, erfahrt ihr hier!
Bei Zweifeln hilft oft eine Rückfrage im Jobcenter oder eine kostenlose Erstberatung bei Sozialverbänden.