Dürfen Jobcenter eine Rückforderung und die Aufrechnung mit laufendem Bürgergeld in ein und demselben Bescheid verfügen? Genau darüber streiten Sozialgerichte seit Jahren.
Nun steht eine Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) an, die die Praxis der Jobcenter bundesweit vereinheitlichen dürfte.
Der 4. Senat wird am 23. September 2025 darüber verhandeln– anhängig sind mehrere Verfahren, die die „Kombi-Praxis“ der Jobcenter unmittelbar betreffen. Das wird Auswirkungen für Bürgergeld-Bezieher haben.
Inhaltsverzeichnis
Um was es genau geht
Kommt es zu einer Überzahlung, verlangt das Jobcenter Erstattung. In der Praxis wird häufig zugleich erklärt, dass diese Forderung durch Aufrechnung mit dem laufenden Regelbedarf getilgt wird – die monatliche Leistung wird also solange gekürzt, bis der Rückstand ausgeglichen ist.
Formell entstehen damit zwei Entscheidungen im selben Schreiben: die Festsetzung der Erstattung und die Anordnung der Aufrechnung. Ob beides ohne zeitlichen Abstand zulässig ist oder ob die Behörde zunächst eine bestandskräftige Erstattungsforderung abwarten muss, ist der Kern des Konflikts.
Das BSG formuliert die Rechtsfrage explizit so: Darf das Jobcenter „die Aufrechnung […] bereits mit der Erstattungsentscheidung zusammen in einem Bescheid erklären, oder setzt eine wirksame Aufrechnung eine bestandskräftige Erstattungsforderung voraus?“
Rechtlicher Rahmen: Wie viel die Behörde überhaupt kürzen darf
Die Befugnis zur Aufrechnung ergibt sich aus § 43 SGB II. Der Gesetzgeber zieht dort eine klare Obergrenze: Im Regelfall sind bis zu 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs zulässig.
Für Erstattungen, die auf vorläufigen Entscheidungen beruhen (also insbesondere nach § 41a SGB II), gilt eine reduzierte Quote von 10 Prozent.
Außerdem dürfen mehrere laufende Aufrechnungen zusammen – einschließlich der Darlehensaufrechnung nach § 42a SGB II – die Marke von insgesamt 30 Prozent nicht überschreiten. Diese Kappungen sind zwingend und schützen das Existenzminimum.
Uneinheitliche Rechtsprechung: Zwischen Pragmatismus und Rechtsschutz
In den Landessozialgerichten gibt es entgegengesetzte Linien. Teile der Rechtsprechung halten kombinierte Bescheide für unproblematisch, weil sie Verfahrensökonomie fördern und den materiellen Anspruch der Behörde auf Rückführung zu viel gezahlter Leistungen nicht beeinträchtigen.
Andere Gerichte sehen darin eine unzulässige Vorwegnahme, weil die Aufrechnung schon in die laufende Existenzsicherung eingreift, bevor feststeht, ob die Rückforderung rechtmäßig ist.
In der Instanzrechtsprechung der letzten Jahre finden sich beides: Entscheidungen, die die Kombination ausdrücklich durchgehen lassen, und solche, die sie verwerfen und eine vorherige Bestandskraft verlangen. Exemplarisch stehen dafür etwa die Linie des LSG Niedersachsen-Bremen auf der einen und die thüringische Rechtsprechung auf der anderen Seite; genau diese Konstellation ist jetzt in Kassel anhängig.
Bestandskraft: Warum die Frist entscheidet
„Bestandskraft“ bedeutet, dass ein Bescheid nach Ablauf der Widerspruchsfrist unanfechtbar wird.
Wird die Aufrechnung vor Eintritt der Bestandskraft angeordnet und später erweist sich die Erstattungsforderung als rechtswidrig, waren zuvor bereits Leistungen gekürzt – mit spürbaren Folgen für den Lebensunterhalt. Befürworter einer strikt getrennten Vorgehensweise argumentieren daher, dass die Aufrechnung erst nach Bestandskraft erklärt werden darf, um Rechtsschutzlücken zu vermeiden.
Ob sich der 4. Senat dieser Sicht anschließt oder der bislang vielerorts gelebten Verwaltungspraxis folgt, wird sich am 23. September zeigen.
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Bescheid prüfenDer Stand beim BSG: Verfahren und Zeitplan
Der 4. Senat hat die Grundsatzfrage ausdrücklich auf seiner Rechtsfragen-Übersicht platziert und einen Verhandlungstermin am 23. September 2025 in Aussicht gestellt. In einem einschlägigen Revisionsverfahren (Az. B 4 AS 18/24 R) geht es um genau jene Konstellation: Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit gleichzeitiger Aufrechnung.
Ein im Mai 2025 terminiertes Verfahren wurde ohne mündliche Verhandlung nicht entschieden; die Sache bleibt also offen und soll nun mit den gebündelten Verfahren geklärt werden. Die Tragweite reicht über Einzelfälle hinaus, weil die Entscheidung unmittelbar die Bescheidpraxis in Jobcentern bundesweit berührt.
Folgen für Betroffene: Warum sich der Widerspruch lohnt
Auch ohne höchstrichterliches Urteil ist der Widerspruch gegen eine im Kombinationsbescheid angeordnete Aufrechnung derzeit sachgerecht. Wer fristgerecht reagiert, verhindert Bestandskraft und eröffnet zugleich die Möglichkeit, das eigene Verfahren mit Verweis auf die beim BSG anhängige Rechtsfrage ruhen zu lassen.
Sozialgerichte orientieren sich nach Verkündung regelmäßig an der Linie des BSG; eine frühe Rechtswahrung sichert daher die Chance, von einer für Betroffene günstigen Entscheidung zu profitieren – etwa, wenn Kassel eine getrennte Vorgehensweise verlangt und laufende Praxis für rechtswidrig erklärt.
Dass der Gesetzgeber die Quoten strikt deckelt und für vorläufige Konstellationen sogar auf 10 Prozent begrenzt, zeigt die Bedeutung eines effektiven Rechtsschutzes im Bereich des Existenzminimums.
Bedeutung für die Verwaltung: Zwischen Effizienz und Fairness
Für die Jobcenter steht nicht weniger als die Neujustierung ihrer Erstattungsroutinen auf dem Spiel. Sollte das BSG die strengere Linie bestätigen, müssten Rückforderungen und Aufrechnungen konsequent getrennt werden.
Die Behörden hätten die Widerspruchsfristen abzuwarten oder – wenn der Vollzug gleichwohl nötig erscheint – besondere Instrumente wie die sofortige Vollziehung im Einzelfall zu begründen.
Auch das interne Forderungsmanagement müsste angepasst werden, um Überschreitungen der zulässigen Aufrechnungsquoten zuverlässig zu vermeiden. Hält das BSG die Kombinationspraxis hingegen für zulässig, wären gleichwohl hohe Anforderungen an Begründung, Transparenz und Quotenprüfung fortzuschreiben, um den Schutzbereich des § 43 SGB II rechtsstaatlich abzusichern.
So gehen Betroffene jetzt vor
Entscheidend ist, Fristen im Blick zu behalten und Bescheide sorgfältig zu prüfen. Wer eine Rückforderung mit gleichzeitiger Aufrechnung erhält, sollte binnen eines Monats Widerspruch einlegen, die Aufrechnungsquote gegen die gesetzlichen Grenzen halten und – sofern der Fall auf vorläufigen Entscheidungen beruht – die 10-Prozent-Grenze geltend machen.
In gerichtlichen Verfahren bietet es sich an, auf die anhängigen BSG-Verfahren zu verweisen und das Ruhen bis zur Entscheidung anzuregen.
Der eigene Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum bleibt so bestmöglich geschützt, bis die Kasseler Richterinnen und Richter die Linie endgültig vorgeben.
Die kombinierte Anordnung von Erstattung und Aufrechnung ist mehr als eine Formalie. Sie entscheidet darüber, ob in das Existenzminimum sofort eingegriffen werden darf oder erst nach gesichertem Rechtsgrund.
Mit dem für den 23. September 2025 erwarteten Verhandlungstermin rückt eine höchstrichterliche Klärung in Reichweite. Bis dahin ist Widerspruch das wirksamste Mittel, um Rechte offenzuhalten – und um sicherzustellen, dass Kürzungen nicht auf einer möglicherweise unzulässigen Verfahrensweise beruhen.
Rechtsgrundlagen und Verfahrensstand: § 43 SGB II (Aufrechnung) in der geltenden Fassung; § 41a SGB II (vorläufige Entscheidung); Übersicht der anhängigen Rechtsfragen des 4. Senats des Bundessozialgerichts mit Ansetzung auf den 23.09.2025; Verfahrenshinweis zu B 4 AS 18/24 R.