Rund drei Millionen Menschen in Deutschland beziehen eine Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) – und viele von ihnen fühlen sich seit Jahren benachteiligt. Denn wer seine Rente vor 2019 bewilligt bekam, erhält dauerhaft weniger Geld als Neurentnerinnen und -rentner, die seitdem von verbesserten Berechnungsregeln profitieren.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Ungleichbehandlung nun bestätigt: Die Kürzungen bleiben bestehen. Für Betroffene stellt sich damit die Frage, ob es sich um eine sachlich begründete Differenzierung oder um einen ausgewachsenen Rentenskandal handelt.
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Was ist passiert? Das Urteil in Kürze
Zwei Kläger hatten vor dem BSG versucht, die seit 2019 geltenden günstigeren Regelungen auch für „Altfälle“ durchzusetzen. Seit jenem Stichtag wird die sogenannte Zurechnungszeit – ein zentraler Faktor bei der Berechnung der EM-Rente – deutlich verlängert.
Dadurch steigt die Rente oft spürbar. Das Gericht wies die Klagen jedoch ab und verwies auf den klaren gesetzlichen Rahmen: Änderungen gelten grundsätzlich nur für Neurentner.
Die maßgeblichen Paragraphen 300 und 306 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) sehen eine solche Stichtagsregelung vor. Die Richter werteten diese Differenzierung als sachlich gerechtfertigt, auch wenn sie für Bestandsrentner hart wirken mag.
Die Zurechnungszeit als Dreh- und Angelpunkt
Die Zurechnungszeit simuliert vereinfacht gesprochen Erwerbsjahre, die ein Mensch ohne gesundheitliche Einschränkungen noch gearbeitet und Beiträge gezahlt hätte. Wurde diese Zeitspanne verlängert, erhöht sich damit die Zahl der Entgeltpunkte – und folglich die Rente.
Seit 2019 reicht die Zurechnungszeit deutlich weiter in die Zukunft, was insbesondere jüngeren Erwerbsgeminderten hilft. Wer jedoch bereits vor 2019 in Rente ging, wurde von dieser Verbesserung abgeschnitten. Genau hier setzte die Klage an: Warum sollten Verbesserungen für die einen gelten, für die anderen aber nicht?
Drei Millionen gehen leer aus – und was das finanziell bedeutet
Die Zahl der Betroffenen ist groß: Etwa drei Millionen Menschen mit einer älteren EM-Rente erhalten keinen Ausgleich durch die Reform von 2019. Im Vergleich zu den Neurentnerinnen und Neurentnern fehlen ihnen durchschnittlich zwischen 50 und 200 Euro pro Monat.
Im vom BSG entschiedenen Einzelfall belief sich die monatliche Differenz auf rund 185 Euro brutto – eine Summe, die im Alltag spürbar ist. Wer ohnehin mit einer eingeschränkten Erwerbsfähigkeit leben muss, spürt jede Lücke im Haushaltsbudget deutlicher.
Ein Trostpflaster: Der Rentenzuschlag
Ganz leer gehen die Bestandsrentner allerdings nicht aus. Zum 1. Juli 2024 wurde ein pauschaler Zuschlag eingeführt. Er beträgt – je nach Zeitpunkt des Rentenbeginns – 4,5 oder 7,5 Prozent.
Anspruch haben Rentner, deren EM-Rente erstmals zwischen 2001 und 2018 gewährt wurde. Rechtsgrundlage ist § 307j SGB VI. Eine häufige Verwechslung mit § 307i liegt nahe, doch dieser Paragraf greift erst ab dem 1. Dezember 2025.
Trotz des Zuschlags bleibt jedoch eine merkliche Distanz zu den Rentenhöhen, die Neurentner seit 2019 erzielen können. Der Zuschlag ist ein politischer Kompromiss, aber keine echte Gleichstellung.
Hintergrund und Kritik
Der Gesetzgeber stand nach der Reform 2019 unter Druck: Sozialverbände und Interessenvertreter monierten, dass die verbesserte Zurechnungszeit nur Neurentnern zugutekomme.
In Anhörungen und Stellungnahmen zum sogenannten „EM-Renten-Bestandsverbesserungsgesetz“ wurde deutlich, dass man zwar einen Ausgleich schaffen wollte, aber auf Kostendämpfung bedacht blieb. Das Ergebnis ist ein Zuschlag, der Linderung verschafft, jedoch die strukturelle Ungleichheit bestehen lässt.
Kritiker sehen darin eine symbolische Geste statt einer belastbaren Lösung. Befürworter argumentieren, dass ein vollständiger Rückwirkungsmechanismus fiskalisch kaum zu stemmen gewesen wäre und Stichtage im Sozialrecht üblich seien.
Was Betroffene jetzt tun sollten
Auch wenn das BSG die Chance auf eine pauschale Nachbesserung verbaut hat, sollten Betroffene ihre individuellen Ansprüche prüfen. Entscheidend ist, ob alle rentenrelevanten Zeiten korrekt berücksichtigt wurden. Dazu gehören insbesondere die Zurechnungszeiten, deren Länge abhängig vom Rentenbeginn ist.
Ebenso wichtig ist der Blick auf die Entgeltpunkte: Wurden alle Beitragszeiten, Anrechnungszeiten und Zeiten der Kindererziehung oder Pflege korrekt verbucht? Seit Juli 2024 muss außerdem der neue Rentenzuschlag im Bescheid enthalten sein.
Es lohnt sich, den Rentenbescheid genau zu lesen und zu kontrollieren, ob der Zuschlag nicht nur angekündigt, sondern tatsächlich ausgezahlt wird. Wer Zweifel hat, kann zunächst eine fachkundige Prüfung veranlassen – etwa durch gerichtlich zugelassene Rentenberaterinnen und Rentenberater oder spezialisierte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.
Erst danach sollte ein Überprüfungsantrag gestellt werden, um formale Fristen einzuhalten und unnötige Ablehnungen zu vermeiden.
Rechtlicher Rahmen und verfassungsrechtliche Fragen
Stichtagsregelungen sind im Sozialrecht nichts Ungewöhnliches. Sie dienen der Verwaltungsvereinfachung und sollen Planungssicherheit schaffen. Gleichzeitig werfen sie immer wieder Gerechtigkeitsfragen auf.
Das BSG hat den Gesetzgebern einen großen Ermessensspielraum zugestanden. Verfassungsrechtlich wäre eine Anfechtung nur dann erfolgversprechend, wenn die Ungleichbehandlung als willkürlich oder unverhältnismäßig zu bewerten wäre.
Das Gericht sah jedoch nachvollziehbare Gründe – unter anderem die finanziellen Auswirkungen für die Rentenversicherung – und verneinte eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Damit ist die juristische Tür für Bestandsrentner weitgehend geschlossen.
Zwischen Resignation und Handlungsoptionen
Viele Betroffene werden das Urteil als Niederlage empfinden. Doch trotz der klaren Rechtsprechung gibt es individuelle Stellschrauben. Wer etwa in der Vergangenheit nicht alle relevanten Zeiten gemeldet hat oder wessen Erwerbsbiografie komplex ist, findet mitunter noch Korrekturpotenzial.
Auch sozialrechtliche Instrumente wie der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X können in Einzelfällen zu Nachzahlungen führen, wenn Fehler in der ursprünglichen Entscheidung nachweisbar sind. Das erfordert allerdings Genauigkeit und Expertise – und oft Geduld.
Fazit: Ein Urteil mit Signalwirkung
Das Bundessozialgericht hatte die Stichtagslogik bestätigt und damit der Politik den Rücken gestärkt. Für Millionen Bestandsrentner bleibt die Enttäuschung: Der Zuschlag ab 1. Juli 2024 lindert die Schieflage, beseitigt sie aber nicht.
Die Debatte um Fairness und finanzielle Tragfähigkeit sozialer Sicherungssysteme wird damit nicht enden. Wer betroffen ist, sollte jetzt umso genauer hinsehen: Stimmen die Berechnungen? Ist der Zuschlag angekommen? Gibt es individuelle Fehler, die sich korrigieren lassen? Auch wenn die große Tür verschlossen ist, können kleine Korrekturen spürbare Unterschiede machen.
Am Ende bleibt die Frage: Reicht ein pauschaler Zuschlag aus, um jahrzehntelange Ungleichheiten auszugleichen? Oder braucht es eine grundlegende Neubewertung der Erwerbsminderungsrente, die alle Generationen gleich behandelt?