Trotz 45 Rentenjahre keine abschlagsfreie Schwerbehindertenrente – Fatales Urteil

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Die Vorstellung klingt für viele Betroffene naheliegend: Wer wegen einer Schwerbehinderung früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden darf und zugleich auf eine sehr lange Versicherungsbiografie kommt, müsste dann nicht auch früher ohne Rentenabschläge gehen können.

Genau an dieser Erwartung entzündete sich ein Rechtsstreit, der über mehrere Jahre immer wieder neue gerichtliche Stationen erreichte und am Ende gleich zweimal durch die oberste sozialgerichtliche Instanz ausgebremst wurde.

Übrig bleibt eine Botschaft, die für die Praxis große Folgen hat: Das Rentenrecht lässt sich nicht nach dem Prinzip „bestes aus beiden Welten“ kombinieren. Wer eine bestimmte Rentenart wählt, muss ihre Regeln vollständig akzeptieren – auch dann, wenn er die Voraussetzungen einer anderen, günstigeren Rentenart ebenfalls erfüllt.

Der Ausgangspunkt: Jahrgang 1957, GdB 50, Rentenbeginn 2020

Der Betroffene ist ein Versicherter des Jahrgangs 1957, bei dem eine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt war.

Er beantragte im Jahr 2019 eine Altersrente und ließ dabei mehrere Rentenvarianten prüfen, um die für ihn wirtschaftlich günstigste Lösung zu finden.

Die Rentenversicherung bewilligte schließlich die Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit einem Rentenbeginn zum 1. Februar 2020.

Weil dieser Beginn aus Sicht der Rentenversicherung vor der für diese Rentenart maßgeblichen abschlagsfreien Altersgrenze lag, wurde die Rente dauerhaft gekürzt.

Der Versicherte hielt das für nicht hinnehmbar. Er verwies auf seine lange Versicherungszeit und sah sich im Vergleich zu anderen Versicherten benachteiligt, zumal es mit der Altersrente für besonders langjährig Versicherte eine Möglichkeit gibt, bei erfüllten 45 Versicherungsjahren ohne Abschläge in Rente zu gehen, dann allerdings zu einem späteren Zeitpunkt.

Aus seiner Perspektive durfte die Schwerbehindertenrente nicht dadurch „entwertet“ werden, dass sie mit Abschlägen belastet wird, während eine andere Rentenart bei gleicher oder sogar späterer Altersgrenze abschlagsfrei bleibt.

Warum 45 Versicherungsjahre hier nicht automatisch helfen

Der Fall zeigt, wie streng das Rentenrecht zwischen Rentenarten unterscheidet. Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen ist als eigenständige Rentenart konstruiert. Sie knüpft vor allem an zwei Punkte an: an einen anerkannten Grad der Behinderung von mindestens 50 und an eine Mindestversicherungszeit von 35 Jahren.

Sie eröffnet – je nach Geburtsjahr – einen früheren Rentenzugang als die Regelaltersrente. Diese frühere Zugangsmöglichkeit ist im System jedoch in zwei Stufen angelegt: Es gibt eine Altersgrenze, ab der die Rente ohne Abschläge möglich ist, und eine niedrigere Altersgrenze, ab der die Rente zwar früher beginnen kann, dann aber mit Abschlägen verbunden ist.

Für jeden Monat, den der Rentenbeginn vor dieser abschlagsfreien Altersgrenze liegt, werden 0,3 Prozent abgezogen; insgesamt kann das bis zu 10,8 Prozent ausmachen, und dieser Abzug bleibt lebenslang bestehen.

Die Altersrente für besonders langjährig Versicherte ist wiederum eine andere Rentenart. Sie folgt einem anderen gesetzgeberischen Gedanken, nämlich der Belohnung besonders langer Beitrags- und Versicherungszeiten.

Der Preis für die Abschlagsfreiheit ist hier nicht ein medizinischer Status, sondern die anspruchsvolle Wartezeit von 45 Jahren, kombiniert mit einer Altersgrenze, die je nach Jahrgang gestaffelt ist.

Für den Jahrgang 1957 weist auch die Deutsche Rentenversicherung ausdrücklich darauf hin, dass diese Rentenart grundsätzlich zu einem früheren Zeitpunkt ohne Abschläge möglich sein kann, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, allerdings eben nach den Regeln dieser Rentenart und nicht nach den Regeln der Schwerbehindertenrente.

Der rentenrechtliche Streit entzündete sich genau an dieser Trennlinie. Der Kläger wollte den Vorteil der Schwerbehindertenrente beim frühestmöglichen Rentenbeginn und gleichzeitig die Abschlagsfreiheit, die an die 45 Versicherungsjahre einer anderen Rentenart gekoppelt ist. Die Gerichte haben diesen „Transfer“ konsequent abgelehnt.

Die Gerichte: Rentenarten sind getrennte Systeme

In den gerichtlichen Entscheidungen wurde immer wieder derselbe Grundsatz betont: Jede Altersrente ist ein eigenes Rechtsinstitut mit eigenem Zugang, eigenen Altersgrenzen und eigener Abschlagslogik. Wer eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen vorzeitig in Anspruch nimmt, nimmt damit nicht nur einen früheren Beginn in Anspruch, sondern akzeptiert zugleich die gesetzlich vorgesehene Kürzung. Dass parallel dazu die Voraussetzungen für eine andere Rentenart erfüllt sein könnten, ändert daran nichts.

Diese Sichtweise ist leider folgerichtig. Das Rentenrecht arbeitet nicht mit einem Baukastensystem, bei dem Versicherte frei Vorteile addieren können. Es arbeitet mit typisierten Rentenwegen, die jeweils ein Bündel aus Zugangsvoraussetzungen und Rechtsfolgen enthalten.

Gerade in einer umlagefinanzierten Versicherung ist dies eine Regelung, mit dem Gleichbehandlung hergestellt werden soll: Wer früher eine Leistung erhält, bekommt sie nach gesetzlicher Wertung in geringerem Umfang, weil sie voraussichtlich länger gezahlt wird. Wer dafür Abschlagsfreiheit beansprucht, muss im Gegenzug bis zu einer bestimmten Altersgrenze warten oder andere Hürden erfüllen.

Der Gleichheitsgedanke: Keine Benachteiligung durch die „Rente mit 63“

Ein Schwerpunkt der Argumentation des Klägers war der Gleichheitsgrundsatz. Sinngemäß stand dahinter der Vorwurf, schwerbehinderte Menschen würden durch die Einführung oder Ausgestaltung der abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte schlechter gestellt, weil Nichtbehinderte mit 45 Versicherungsjahren abschlagsfrei gehen könnten, während Schwerbehinderte bei einem besonders frühen Start Abschläge tragen müssten.

Die Gerichte haben das anders bewertet. In ihrer Betrachtung liegt keine Schlechterstellung vor, weil schwerbehinderte Menschen bereits einen eigenen, privilegierten Zugang in eine Altersrente haben, der im Vergleich zu nicht schwerbehinderten Versicherten einen früheren Renteneintritt ermöglicht.

Dass dieser frühere Zugang in der vorgezogenen Variante mit Abschlägen verbunden ist, wird als Teil des gesetzgeberischen Ausgleichs verstanden. Zudem bleibt es jedem Versicherten unbenommen, bei Vorliegen der 45 Versicherungsjahre die Altersrente für besonders langjährig Versicherte zu wählen und dadurch Abschlagsfreiheit zu erreichen, dann allerdings zu dem Zeitpunkt, den diese Rentenart vorgibt.

Der lange Instanzenweg und die Rolle des Bundessozialgerichts

Der Streit endete nicht mit einer einzigen gerichtlichen Niederlage (AZ: L 10 R 233/24). Er zog sich über Jahre und nahm dabei zwei Phasen an. In einer früheren Runde gelangte die Auseinandersetzung bereits über das Sozialgericht Karlsruhe und das Landessozialgericht Baden-Württemberg bis zum Bundessozialgericht; dort scheiterte der Kläger mit einer Nichtzulassungsbeschwerde.

In einer späteren Runde, die durch einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X ausgelöst wurde, kam es erneut zu einer Klage vor dem Sozialgericht Karlsruhe und einer Berufung. Auch hier blieb der Kläger erfolglos. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg wies die Berufung mit Urteil vom 22. Mai 2025 zurück. Gegen die Nichtzulassung der Revision legte der Kläger wiederum Nichtzulassungsbeschwerde ein, doch das Bundessozialgericht verwarf diese mit Beschluss vom 22. Oktober 2025. Damit wurde das Urteil des Landessozialgerichts rechtskräftig.

Wichtig ist dabei ein Detail, das in der öffentlichen Wahrnehmung häufig untergeht: Ein Verwerfungsbeschluss zur Nichtzulassungsbeschwerde ist in der Regel keine inhaltliche Entscheidung über die Rentenfrage selbst, sondern eine prozessuale Schranke.

Das Bundessozialgericht prüft dann nicht erneut umfassend, ob die Rentenversicherung materiell richtig lag, sondern ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision ordnungsgemäß dargelegt und erfüllt sind. Für Betroffene kann sich das dennoch wie eine endgültige inhaltliche Abfuhr anfühlen, weil der Rechtsweg faktisch beendet wird und das Berufungsurteil bestehen bleibt.

Der Überprüfungsantrag: Warum § 44 SGB X keine zweite Hauptverhandlung ist

Nach der ersten Verfahrensrunde versuchte der Kläger, über § 44 SGB X eine erneute Prüfung der Rentenbescheide zu erreichen. Dies ist im Sozialrecht wichtig, weil es rechtswidrige belastende Verwaltungsakte auch nach Eintritt der Bestandskraft korrigierbar machen soll.

Gleichzeitig ist § 44 SGB X keine Einladung, einen bereits entschiedenen Rechtsstreit mit denselben Argumenten neu aufzulegen. Voraussetzung ist vielmehr, dass der ursprüngliche Bescheid auf einer unrichtigen Tatsachenbasis beruht oder das Recht falsch angewandt wurde.

Genau daran scheiterte der erneute Vorstoß. Die Gerichte sahen keine fehlerhafte Rechtsanwendung, sondern eine konsequente Umsetzung der gesetzlichen Abschlagsregelung für die vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Damit fehlte das Einfallstor, über das § 44 SGB X eine Korrektur hätte erzwingen können.

Ein Nebenaspekt: Anerkannte Zeiten ohne spürbaren Effekt

Der Fall enthält noch einen Punkt, der für viele Versicherte typisch ist und dennoch selten Schlagzeilen macht: Im Laufe des Verfahrens wurden ältere Beitrags- oder Versicherungszeiten aus den 1970er-Jahren rückwirkend anerkannt.

Für den Kläger war das ein Teilerfolg, der allerdings an der entscheidenden Stellschraube nichts änderte, weil die Anerkennung die Abschlagsfrage nicht berührte und offenbar auch die Rentenhöhe nicht in einer Weise beeinflusste, die den Streit befriedet hätte.

Gerade hier zeigt sich, wie leicht sich Betroffene in Detailkorrekturen verbeißen können, während die eigentliche wirtschaftliche Wirkung von ganz anderen Faktoren abhängt, nämlich vom Rentenbeginn, der Rentenart und der Abschlagslogik.

Was Betroffene aus dem Urteil mitnehmen sollten

Die praktische Konsequenz ist unangenehm klar: Wer die Altersrente für schwerbehinderte Menschen möglichst früh beginnen lässt, muss damit rechnen, dass Abschläge anfallen, selbst wenn 45 Versicherungsjahre erreicht sind.

Wer Abschlagsfreiheit will, muss sich an die abschlagsfreie Altersgrenze der gewählten Rentenart halten oder eine andere Rentenart wählen, die Abschlagsfreiheit vorsieht, aber möglicherweise später beginnt.
Das macht die Entscheidung über den Rentenantrag zu einer Weichenstellung mit dauerhaftem Effekt.

Ein paar Monate früherer Rentenbeginn bedeuten nicht nur einige Monate früher Geld, sondern oft eine lebenslange Kürzung. Umgekehrt kann das Warten auf eine abschlagsfreie Rente finanziell sinnvoll sein, wenn die spätere, höhere Monatsrente die „verlorenen“ Monate ausgleicht.

Welche Variante im Einzelfall besser ist, hängt von der Rentenhöhe, der Beschäftigungssituation, der Gesundheit, dem Steuersatz, der Krankenversicherung und der Frage ab, wie der Übergang in den Ruhestand gestaltet werden soll.

Gestaltungsmöglichkeiten: Abschläge ausgleichen, Übergänge flexibilisieren

Das Rentenrecht ist in der Konsequenz streng, bietet aber durchaus legale Möglichkeiten, die Folgen zu mildern. Wer eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen erwägt, kann diese Abschläge unter bestimmten Voraussetzungen durch Sonderzahlungen ganz oder teilweise ausgleichen.

Die Deutsche Rentenversicherung verweist darauf, dass solche Ausgleichszahlungen grundsätzlich ab dem 50. Lebensjahr möglich sind, wenn eine entsprechende Auskunft eingeholt wird.

Das ist kein „Trick“, sondern ein gesetzlich vorgesehener Weg, um einen früheren Rentenbeginn zu ermöglichen, ohne die monatliche Leistung dauerhaft zu reduzieren.

Daneben hat sich der Übergang in die Rente in den letzten Jahren auch durch flexiblere Hinzuverdienstmöglichkeiten verändert. Wer nicht abrupt aussteigen will oder kann, kann heute häufiger über Teilrentenmodelle, Weiterarbeit und einen gleitenden Übergang nachdenken.

Für die individuelle Rechnung kann das entscheidend sein, weil ein früher Rentenbeginn mit Abschlägen möglicherweise durch zusätzliche Einkommen und weitere Rentenbeiträge flankiert wird, während ein späterer Beginn ohne Abschläge eine andere Balance zwischen Zeit und Geld setzt.

Quellen

Deutsche Rentenversicherung, Informationsseite „Altersrente für schwerbehinderte Menschen“ (Altersgrenzen, Abschläge, Voraussetzungen).
§ 236a SGB VI (Altersrente für schwerbehinderte
Verfahrenshinweise zum Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22.05.2025 – L 10 R 233/24