Schwerbehinderung: Zwang zur Grundsicherung? Urteil widerspricht Behörde

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Wer Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII bezieht, muss nicht automatisch auf Grundsicherung wechseln. Ohne wirksamen Antrag auf Grundsicherung bleibt die Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen. Ein vom Amt gestellter Trägerantrag nach § 95 SGB XII ändert daran nichts.

Wird die Leistung mit Verweis auf „fehlende Mitwirkung“ zur Grundsicherung versagt, greift der Widerspruch aufschiebend. Das hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 10.06.2025 (L 9 SO 71/25 B ER) bestätigt.

Worum es im Fall ging

Der Antragsteller bezog eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen und erhielt zunächst Grundsicherung. Das Sozialamt stellte auf Hilfe zum Lebensunterhalt um. Später verlangte die Behörde Mitwirkung gegenüber der Rentenversicherung, um eine dauerhafte volle Erwerbsminderung zu klären, und versagte schließlich die Sozialhilfe wegen angeblich fehlender Mitwirkung.

Das Sozialgericht verpflichtete das Amt im Eilverfahren zur weiteren Zahlung; das LSG wies die Beschwerde des Amtes zurück.

Grundsatz: Grundsicherung hat Vorrang – aber nur bei bestehendem Anspruch

Die Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII geht der Hilfe zum Lebensunterhalt formal vor. Dieser Vorrang gilt jedoch nur, wenn ein Anspruch tatsächlich besteht. Fehlt es am wirksamen Antrag auf Grundsicherung, bleibt die Hilfe zum Lebensunterhalt geschuldet. Diese Linie entspricht der ständigen Rechtsprechung zum Antragsprinzip.

Kein Antrag, kein Wechsel: § 95-Trägerantrag ersetzt den Willen nicht

Die Behörde kann nach § 95 SGB XII selbst einen Antrag auf Grundsicherung stellen. Das ersetzt jedoch nicht die eigenständige Entscheidung der betroffenen Person. Ein Amtsantrag führt nicht automatisch zum Leistungswechsel.

Vor allem begründet er keine Pflicht, für die Grundsicherung Gesundheitsdaten offenzulegen, wenn zeitgleich Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wird. Eine Versagung der Sozialhilfe mit der Begründung, jemand habe für die Grundsicherung nicht mitgewirkt, ist daher rechtswidrig.

Aufschiebende Wirkung schützt die Existenz

Gegen einen Versagungsbescheid entfaltet der Widerspruch aufschiebende Wirkung. Das bedeutet: Die Leistung darf bis zur Klärung nicht eingestellt werden, es sei denn, das Gesetz ordnet ausnahmsweise etwas anderes an.

Wer auf Zahlungen angewiesen ist, kann zusätzlich einen Eilantrag stellen, damit das Gericht die vorläufige Weiterzahlung anordnet. Genau das ist hier geschehen.

Gesetzliche Zielsetzung: Kein Zwang zur Grundsicherung

Die Grundsicherung wurde eingeführt, um verdeckte Altersarmut zu vermeiden. Der Wechsel von der Sozialhilfe zur Grundsicherung sollte nicht von Amts wegen erfolgen. Seit 2020 gilt der Angehörigen-Entlastungs-Mechanismus (§ 94 Abs. 1a SGB XII) ohnehin für alle Sozialhilfeleistungen, was den Druck zum Wechsel zusätzlich relativiert.

Wer die mit der Grundsicherung verbundene Gesundheitsprüfung nicht wünscht, darf bei der Hilfe zum Lebensunterhalt bleiben, solange deren Voraussetzungen vorliegen.

Was bedeutet das für Betroffene?

Leistungsberechtigte können selbst entscheiden, ob sie einen Antrag auf Grundsicherung stellen. Ohne Antrag gibt es keinen Anspruch auf Grundsicherung – und damit keine Verdrängung der Hilfe zum Lebensunterhalt.

Sozialämter dürfen HLU nicht mit dem Hinweis versagen, jemand müsse „vorrangig“ Grundsicherung beantragen oder ärztliche Unterlagen für die Grundsicherung beibringen.

Praxis: So reagieren Sie auf eine Versagung

Wenn das Amt die Sozialhilfe wegen angeblicher Mitwirkungspflichten zur Grundsicherung stoppt, sollten Sie umgehend Widerspruch einlegen. Vorläufige Sicherung ist durch einen Eilantrag beim Sozialgericht möglich.

Weisen Sie darauf hin, dass der Vorrang der Grundsicherung nur bei bestehendem Anspruch greift und der Trägerantrag keinen Mitwirkungszwang zur Grundsicherung schafft. Bitten Sie um fortlaufende Zahlung der Hilfe zum Lebensunterhalt bis zur Entscheidung.

Einordnung des Beschlusses

Das LSG entschied im Eilverfahren nach summarischer Prüfung. Dennoch ist die Begründung tragfähig: Sie verweist auf das Antragsprinzip und zieht klare Grenzen zwischen dem Dritten und dem Vierten Kapitel des SGB XII.

Für die Beratungspraxis liefert der Beschluss klare Argumente in Fällen, in denen Sozialämter Leistungen wegen verweigerter Mitwirkung zur Grundsicherung streichen.

Hintergrund: Abgrenzung Drittes und Viertes Kapitel

Die Hilfe zum Lebensunterhalt (Drittes Kapitel) sichert den Bedarf, wenn weder SGB II noch Grundsicherung greift. Die Grundsicherung (Viertes Kapitel) richtet sich an Menschen ab der maßgeblichen Altersgrenze oder bei dauerhafter voller Erwerbsminderung.

Ob Letztere vorliegt, betrifft nur den Anspruch auf Grundsicherung. Wird diese Frage offengelassen oder fehlt der Antrag, bleibt die Hilfe zum Lebensunterhalt maßgeblich.