Schwerbehinderung: Trotz GdB 100 & Rollstuhl – Gericht kippt Merkzeichen „H“

GdB 100, mehrere Merkzeichen, Rollstuhlnutzung – und trotzdem kein „H“ für Hilflosigkeit. Mit diesem Befund hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az. L 12 SB 440/24, Entscheidung vom 9. Mai 2025) die Berufung einer Klägerin zurückgewiesen.

Das Urteil ist ein Weckruf: Wer „H“ will, muss die tägliche, erhebliche Hilfe bei Grundverrichtungen belegen – bloße Rollstuhlnutzung oder ein Pflegegrad 3 reichen nicht.

Worum ging es?

Die 1974 geborene Klägerin hatte bereits GdB 100 sowie die Merkzeichen G, B und aG. Sie begehrte zusätzlich das Merkzeichen „H“. Ärztliche Unterlagen bescheinigten u. a. chronische Schmerzen, Funktionseinschränkungen, zeitweise stationäre Aufenthalte – und die Nutzung eines Rollstuhls, auch in der Wohnung.

Dennoch verneinten bereits das Sozialgericht und zuvor ein anderer LSG-Senat die Hilflosigkeit im Rechtssinn. Begründung: Zu wenig objektivierbare, täglich wiederkehrende Hilfebedarfe bei Grundverrichtungen; die Klägerin sei in vielen Bereichen weitgehend selbstständig.

Der rechtliche Maßstab – verständlich erklärt

„Hilflos“ ist, wer dauerhaft und täglich für eine Reihe (regelmäßig mindestens drei) häufig und regelmäßig wiederkehrender Verrichtungen Hilfe braucht – und zwar in erheblichem Umfang. Gemeint sind Grundverrichtungen wie Körperpflege, Ernährung, Mobilität, Kommunikation/Antrieb, nicht aber Hausarbeit.

Auch Anleitung/Überwachung zählt, wenn sie ständig bereitstehen muss. Als Regelbeispiele gilt „H“ u. a. bei Blindheit oder Querschnittslähmung sowie bei anderen Behinderungen, die dauernd und ständig – auch in der Wohnung – einen Rollstuhl erfordern. Diese Beispiele greifen aber nur, wenn die Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind.

Wichtig: Der Pflegegrad ist kein Automatismus. Pflegegrad 3 signalisiert zwar erhebliche Einschränkungen, lässt für „H“ aber oft noch nicht auf den nötigen umfangreichen täglichen Hilfebedarf schließen. Starke Indizwirkung besteht eher ab Pflegegrad 4/5.

Warum scheiterte die Klägerin?

Das Gericht stellte – gestützt auf Sachverständigengutachten und eigene Angaben der Klägerin – eine deutliche Diskrepanz fest: subjektiv sehr hohe Einschränkungen, objektiv aber ein beachtliches psychosoziales Funktionsniveau.

Transfers (Rollstuhl ↔ Sitz/Untersuchungsliege), An- und Auskleiden, Essen/Trinken sowie eigenständige Alltagsorganisation seien weitgehend möglich. Selbst eine tägliche Schwimmbadnutzung, Vereinsaktivität und eigenständiger Behördenkontakt wurden dokumentiert. Damit fehlte es an der für „H“ erforderlichen Häufigkeit und Erheblichkeit der Hilfeleistungen.

Was zählt – und was nicht?

Zählt für „H“ Zählt nicht / reicht nicht
Tägliche Hilfe bei Körperpflege, Ankleiden, Toilette, Nahrungsaufnahme, Transfers, Wohnungsverlassen Hauswirtschaft (Putzen, Kochen, Einkaufen)
Mehrere Grundverrichtungen jeden Tag und in erheblichem Umfang (i. d. R. deutlich über bloß “knapp 1 Stunde”) Gelegentliche oder tagesformabhängigeUnterstützung
Ständige Anleitung/Überwachung (z. B. bei Sturz-, Orientierungs-, Antriebsproblemen) Allgemeine Schmerzangaben ohne objektive Funktionsbefunde
Dauernde Rollstuhlpflicht auch in der Wohnung – medizinisch klar belegt Rollstuhlnutzung ohne Nachweis der dauernden Notwendigkeit
Konsistente Befunde, Berichte, Pflegedokumentationen Pflegegrad 3 allein oder unkritische Übernahme bloßer Selbstauskünfte

Was bedeutet das Urteil für Betroffene?

Das LSG sendet eine klare Botschaft: Hilflosigkeit ist ein Funktions-, kein Etikettenbegriff. Entscheidend ist der Alltag, nicht die Diagnoseliste. Wer „H“ beantragt oder im Widerspruch durchsetzen möchte, sollte gezielt den täglichen Hilfebedarf bei Grundverrichtungen dokumentieren – konkret, regelmäßig, nachvollziehbar.

So stärken Sie Ihren Antrag – ohne Umwege:

Führen Sie konsequent Tagesprotokolle: Halten Sie fest, wer Ihnen wobei hilft, wie oft und wie lange die Unterstützung nötig ist und aus welchem Grund – etwa wegen Sturzgefahr, fehlender Feinmotorik oder Antriebslosigkeit.

Sorgen Sie außerdem für ärztliche Funktionsberichte statt bloßer Diagnosen: Entscheidend ist, was ohne Hilfe nicht gelingt, zum Beispiel Transfers, An- und Auskleiden, Intimhygiene oder die Essensaufnahme – jeweils einzeln und konkret beschrieben. Prüfen Sie pflegefachliche Einschätzungen kritisch: Wurden Fremdangaben plausibilisiert und passen die Bewertungen zu den dokumentierten Abläufen im Alltag?

Achten Sie strikt auf Konsistenz: Ihre Angaben gegenüber Medizinischem Dienst, behandelnden Ärzten, Pflegekasse, Versorgungsamt und Gericht sollten deckungsgleich sein; Widersprüche kosten Glaubwürdigkeit. Und berufen Sie sich auf Regelbeispiele nur dann, wenn die Voraussetzungen tatsächlich vorliegen – etwa eine dauernde Rollstuhlpflicht, die auch in der Wohnung besteht.

Einordnung

Die Revision wurde nicht zugelassen – das unterstreicht die Signalwirkung: GdB 100 und Rollstuhl sind keine Eintrittskarte für „H“. Wer wirklich täglich und erheblich Hilfe braucht, kann „H“ erreichen – aber nur mit harter, alltagsnaher Beweisführung.

Für Beratungsstellen, Betroffene und Angehörige ist dieses Urteil daher weniger eine Hürde als eine präzise Landkarte, wie Anträge künftig erfolgreich aufgebaut werden sollten.