16-jähriger Schwerstbehinderter hat Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK
Artikel 20 der UN-Behindertenrechtskonvention zielt darauf, die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen mit größtmöglicher Unabhängigkeit im Sinne von Selbstbestimmung sicherzustellen und verpflichtet die Vertragsstaaten mit Blick darauf zu wirksamen Maßnahmen. Beispielhaft zählt Artikel 20 einzelne Maßnahmen auf.
So sollen die Vertragsstaaten die persönliche Mobilität zu erschwinglichen Kosten und mit Wahlmöglichkeiten, die sich auf die Art und Weise sowie den Zeitpunkt beziehen, erleichtern. Weiterhin soll der Zugang zu hochwertigen Mobilitätshilfen, Geräten, unterstützenden Technologien, menschlicher und tierischer Hilfe sowie zu Mittelspersonen erleichtert werden; auch dadurch, dass die vorgenannte Unterstützung zu erschwinglichen Preisen erfolgt.
Therapie-Tandem mit Elektrounterstützung als Leistungen zur Teilhabe
An einer Erkrankung aus dem Autismus-Spektrum mit Störungen der Kommunikation und sozialen Interaktion leidender 16 jähriger 1,85 m groß und ca. 90 kg schwer leidender Jugendlicher hat Anspruch auf ein Therapie-Tandem mit Elektrounterstützung als Hilfsmittel der GKV zum Behinderungsausgleich (so ganz aktuell das Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss v. 24.07.2025 – L 2 SO 1152/25 -).
Voraussetzungen für ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich
Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich dürfe das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschlössen.
Dies folge unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere die Selbstbestimmung der behinderten Menschen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu fördern, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) als Grundrecht und objektive Wertentscheidung i.V.m. dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK.
Dem sei dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu prüfen sei, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden könne und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden könne.
Ausführungen des Gerichts
1. Das Therapie-Tandem ist erforderlich, um ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens nach Erschließung des Nahbereichs der Wohnung zu erfüllen.
2. Die Versorgung mit dem Hilfsmittel Therapie-Tandem ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil es bei der Benutzung durch den Kläger und den „Tandem-Partner“ im öffentlichen Straßenverkehr zu Eigengefährdungen und Fremdgefährdungen kommen könne, denn es ist seitens des Klägers unwidersprochen oder gar widerlegt vorgetragen worden, dass der Kläger und seine Eltern seit ca. fünf Jahren ein entsprechendes Therapie-Tandem leihweise nutzen.
In diesem langen „Erfahrungszeitraum“ kam es offenbar kein einziges Mal während der Nutzung des Fahrrades zu einer von der Behörde in den Blick genommenen Gefahrensituation im öffentlichen Straßenverkehr.
3. Das Therapie-Tandem ist geeignet, dem Wunsch des Klägers nach erheblicher Verbesserung seiner Mobilität im Nahbereich zu entsprechen. Mit diesem Hilfsmittel sei es ihm möglich, sich durch eigene körperliche Bewegung den Nahbereich zu erschließen. Er könne auf dem Therapie-Tandem mittreten und dadurch mit eigener Muskelkraft (gemeinsam mit dem Tandem-Partner) allgemeine Versorgungswege, z.B. zum Bäcker, zum Einkaufen, ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege zu Ärzten zurücklegen bzw. auch einfach gefahrlos „an die frische Luft“ kommen. Dabei stütze sich das Gericht auf die glaubhafte und nachvollziehbare Darstellung der Mutter des Klägers, die eben diesen Einsatzzweck des Hilfsmittels bestätigt habe.
4. Als ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens sei das Erschließen eines körperlichen Freiraums und in Bezug auf Bewegungsmöglichkeiten das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs der Wohnung von Versicherten mit einem Hilfsmittel anerkannt. Maßgebend für den von der GKV insoweit zu gewährleistenden Behinderungsausgleich sei grundsätzlich der Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreiche. In den Nahbereich einbezogen sei zumindest der Raum, in dem die üblichen Alltagsgeschäfte in erforderlichem Umfang erledigt würden. Hierzu gehörten nach einem abstrakten Maßstab die allgemeinen Versorgungswege (Einkauf, Post, Bank) ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege (Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken) und auch elementare Freizeitwege.
Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK – Selbstbestimmung der behinderten Menschen
Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich dürfe das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschlössen. Dies folge unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere die Selbstbestimmung der behinderten Menschen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu fördern, aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) als Grundrecht und objektive Wertentscheidung i.V.m. dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK.
Dem sei dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu prüfen sei, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden könne und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden könne. Hinzu komme gegebenenfalls die Prüfung, ob eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig sei.
5. Dabei sei dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeute auch, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lasse und die Selbstbestimmung fördere.
Praxistipp
Kosten für ein Rollstuhlfahrrad (Tandemfahrrad, bei dem der Fahrende hinten sitzt und vorn ein Rollstuhl arretiert werden kann) als Leistung der sozialen Teilhabe ( Sächsisches LSG, Urteil vom 14.11.2024 – L 8 SO 50/22 – unveröffentlicht – )