Schwerbehinderung: Merkzeichen G auch bei Sehstörung

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Wenn eine Sehstörung zu einer Orientierungsschwäche führt, die sich auf die Gehfähigkeit auswirkt, dann kann dies zwar die Vergabe des Merkzeichens G (erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) im Schwerbehindertenausweis rechtfertigen. Die Hürden dafür sind aber hoch. So entschied das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (L 7 SB 46/14).

Ein Hirntumor und die Folgen

Die Betroffene stellte nach der Operation eines gutartigen Hirntumors einen Antrag auf Feststellungen von Behinderung für die Folgen der Erkrankung. Im Erstbefund hielt der Versorgungsarzt einen Grad der Behinderung von 50 wegen Sehstörungen für angemessen, nicht aber das Merkzeichen G.

Die Betroffene legte Widerspruch ein, und ein zusätzliches nervenärztliches Gutachten ergänzte die bestehenden Diagnosen um eine Anpassungsstörung mit einem Einzelgrad der Behinderung von 30.

Der Leitende Prüfarzt teilte diese Einschätzung und erkannte unter anderem Sensibilitätsstörungen über die linke Gesichtshälfte, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, eine einfache Gesichtsentstellung sowie eine Einschränkung des Geschmackssinns.

Er kam zu einem Gesamtgrad der Behinderung von 70 statt 50, hielt jedoch ebenfalls das Merkzeichen G für nicht gerechtfertigt. Nachdem die Betroffene Klage erhoben hatte, einigten sich beide Parteien auf einen Grad der Behinderung von 80.

Antrag auf Neufeststellung

Dann stellte die Sehgeschädigte einen Antrag auf Neufeststellung. Sie begehrte einen höheren Grad der Behinderung und zudem die Merkzeichen G und B. Das Merkzeichen B steht für eine notwendige Begleitperson.

Neue Befunde stellten eine Verschlechterung des Zustands fest. So gab es einen Verschluss der Hirngefäße, der eine neue Operation nötig machte, eine Nerventaubheit und einen Defekt im Gesichtsfeld.

Der zuständige Versorgungsarzt hielt nichtsdestotrotz an der alten Bewertung fest. Er erklärte, es könne kein Merkzeichen G vergeben werden, weil dafür die motorischen Einschränkungen fehlten. Das verantwortliche Amt lehnte in der Folge eine Neufeststellung ab.

Die Betroffene legte Widerspruch ein und begründete diesen mit verstärkten Gesichtsfeldausfällen, einer Nervenentzündung und mit Verschlüssen von Hirngefäßen. Das linke Auge sei chronisch geschwollen, das Hirn sei unzureichend durchblutet, und die Sehfähigkeit sei eingeschränkt.

Kopfschmerzen und Krämpfe hätten sich verstärkt, Narben im Hinterkopf seien nicht vollständig verheilt, und sie leide unter Schlafstörungen.

Durch die Schwellung des linken Augenlids könne sie auf diesem Auge nicht sehen, und durch die Schmerzen am Hinterkopf sei es ihr fast unmöglich, eine Brille zu tragen.

Verstärkte Sturzgefahr

Schließlich berichtete ein behandelnder Arzt, dass die Betroffene verstärkt gefährdet sei, zu stürzen, da sie Doppelbilder sehe. Ein Facharzt für Neurochirurgie bestätigte vermehrte Schwellungen am linken Auge im Verlauf von mehreren Jahren, die Schwellungen an der linken Gesichtshälfte hätten sich jedoch deutlich verbessert.

Keine begründeten Merkzeichen

Die vom Amt eingesetzte Versorgungsärztin hielt die Merkzeichen G und B für unbegründet. Denn selbst bei einer allseitigen Einschränkung des Gesichtsfeldes auf einem Auge rechtfertige dies nur einen Einzelgrad der Behinderung von 10.

Die zeitweisen Beschwerden, das Lid zu heben, führten in Verbindung zu einem Einzelgrad der Behinderung von 20. Doppelbilder seien nicht dokumentiert. Selbst ein Einzelgrad der Behinderung von 30 für die Augen rechtfertige indessen nicht, die begehrten Merkzeichen zu bewilligen.

Der Grad der Behinderung betrage 70, und es könnten keine Merkzeichen vergeben werden.

Klage vor dem Sozialgericht

Die Frau klagte jetzt vor dem Sozialgericht Halle und beantragte „das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G und B festzustellen.“ Sie argumentierte, sie habe starke Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen durch tumorbedingte Schwindelanfälle.

Deshalb könne sie ortsübliche Wegstrecken und unbekannte Wegstrecken ohne Begleitung nicht mehr bewältigen (dies entspricht den Merkzeichen G und B).

Ein radiologisches Gutachten bestätigte einen Tumorrest, der etwas zugenommen hatte.

Ein neurochirurgisches Gutachten

Ein neurochirurgisches Gutachten, das das Sozialgericht in Auftrag gab, wies auf psychosoziale Belastungen der Betroffenen hin. So sei ihr Ehemann an Prostatakrebs verstorben, einer Tochter eine Lunge transplantiert worden, die andere sei an Brustkrebs erkrankt und hätte eine Chemotherapie auf sich nehmen müssen.

Erhebliche Unsicherheit beim Gehen

Das Gangbild der Betroffenen sei zwar normal, doch zeige sie erhebliche Unsicherheit beim sogenannten Strichgang, also dabei, Fuß für Fuß auf einen virtuellen Strich zu setzen.

Die funktionelle Einäugigkeit beeinträchtige das räumliche Sehen und führe zu Sturzunfällen. Insgesamt sei der bisherige Grad der Behinderung von 80 richtig und sei beizubehalten. Es gebe keine Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B.

Gutachten ist realitätsfern

Die Betroffene lehnte dieses Gutachten als „realitätsfern“ ab. Sie habe ein vermehrtes Sturzrisiko, und es sei wiederholt zu Zusammenstößen mit Passanten und Radfahrern gekommen. Bloße Witterungseinflüsse führten dazu, dass sie öfter stürze.

Augenärztliches Gutachten sieht kein Merkzeichen G

Ein weiteres Gutachten, diesmal von einem Augenarzt, erklärte, die Betroffene habe große Probleme, Abstände einzuschätzen, und vor allem Einschränkungen beim Sehen zu den Seiten und nach unten.

Sie sehe nur verschwommen und könne keine Straßenschilder lesen. Sie sehe Doppelbilder und leide unter Schwindel, und in diesen Situationen brauche sie beim Gehen eine Begleitperson. Ohne Anheben des Lides sei das linke Auge fast funktionslos.

Voraussetzungen für das Merkzeichen G würden jedoch nicht erfüllt, denn diese seien selbst bei einem Einzelgrad der Behinderung von 50 wegen dem vollständigen Verlust des Sehvermögens auf einem Auge nicht gegeben. Auch das Merkzeichen B treffe nicht zu.

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Es geht vor das Landessozialgericht

Das Sozialgericht lehnte die Klage ab, und die Sehgeschädigte ging in Berufung vor das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, um die Merkzeichen G und B zu erhalten. Doch auch Landessozialgericht hielt die Klage für unbegründet.

Es gebe keine orthopädisch-neurologischen Befunde, die eine erhebliche Einschränkung der Gehfähigkeit bestätigten. Neben den Sehstörungen gebe es auch keine sonstigen Orientierungsstörungen von erheblichem Gewicht.

Betroffene kann sich vorsichtig auf unbekanntem Terrain bewegen

Das Gericht führte aus, dass zwar eine sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Orientierungsschwäche bei Sehstörungen die Vergabe des Merkzeichens G rechtfertigen könne. Dies sei aber nur anzunehmen bei Sehbehinderungen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 70.

Bei Sehbehinderungen, die einen geringeren Grad der Behinderung bedingten, sei dies nur der Fall in Kombination mit erheblichen (weiteren) Störungen der Ausgleichsfunktion wie hochgradiger beidseitiger Schwerhörigkeit oder geistiger Behinderung.

Die der Klägerin noch möglichen Bewegungsabläufe wie das Greifen von Gegenständen seien bei einer derart erheblichen Beeinträchtigung nicht mehr zu erwarten. Sie könne sich langsam und vorsichtig auf unbekanntem Gelände bewegen.

Ohne konkrete Gefahrenmomente gibt es kein Merkzeichen G

Für das Gericht galt dabei folgender Leitsatz: „Ein GdB von 70 ist erst bei Verlust eines Auges mit Blindheit und einem zusätzlichen temporären Ausfall einer Gesichtsfeldhälfte des anderen Auges oder einer allseitigen Einengung binocular auf 10 Grad Abstand vom Zentrum der Fall.“

Bei einem geringeren Grad der Behinderung wegen der Sehstörung gelte hingegen: „Liegen sonstige Orientierungsstörungen von Gewicht nicht vor und sind konkrete Gefahrenmomente beim Gehen nicht erkennbar, so besteht unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden Orientierungsfähigkeit kein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G.“

Auch die Zuerkennung des Merkzeichens B sei damit ausgeschlossen.