Schwerbehinderung: Kündigung ohne bEM ungültig – BAG-Urteil

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Eine Kündigung wegen langer Krankheit ist selbst nach fünfeinhalb Jahren Arbeitsunfähigkeit unwirksam, wenn der Arbeitgeber das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) nicht korrekt anbietet oder wiederholt. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg erklärte eine solche Kündigung für unverhältnismäßig.

Der Arbeitgeber versäumte es, vor der Entlassung erneut ein bEM anzustoßen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Sichtweise inzwischen bestätigt und damit die Pflichten von Arbeitgebern nochmals verschärft.

Der Fall: Ein jahrelanger Kampf um den Arbeitsplatz

Eine Versicherungssachbearbeiterin fiel von Dezember 2014 bis Mai 2020 durchgehend krankheitsbedingt aus. Ihr Arbeitsplatz befand sich in einem Großraumbüro, die Tätigkeit erfolgte überwiegend im Sitzen. Im Mai 2019 ergriff die Mitarbeiterin selbst die Initiative.

Sie organisierte ein Präventionsgespräch unter Beteiligung des Integrationsamts. Daraufhin lud ihr Arbeitgeber sie formal zum bEM ein. Die Mitarbeiterin stimmte einer Teilnahme zwar grundsätzlich zu, verweigerte jedoch die Unterschrift unter der notwendigen Datenschutzerklärung. Der Arbeitgeber sah sich dadurch außerstande, das bEM-Verfahren zu starten und stellte seine Bemühungen ein.

Mehrere Versuche der Eingliederung

Parallel dazu unternahm die Angestellte zwischen November 2018 und Dezember 2019 sechs Versuche einer stufenweisen Wiedereingliederung. Nur einer dieser Versuche kam zustande. Während dieser Zeit erhielt sie zwar einen höhenverstellbaren Schreibtisch, nicht aber die gewünschten Hilfsmittel wie ein Einzelbüro oder spezielle Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung (Active Noise Cancelling).

Arbeitgeber leitet Kündigungsverfahren ein

Im November 2019 leitete der Arbeitgeber schließlich das Kündigungsverfahren ein. Er hörte den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung an. Im Dezember beantragte er die Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt, welche auch erteilt wurde. Gestützt darauf sprach das Unternehmen im Mai 2020 die ordentliche Kündigung zum Jahresende aus. Die Mitarbeiterin zog vor Gericht. Das Arbeitsgericht wies ihre Klage zunächst ab.

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Die Wende vor dem LAG: Fehlendes bEM wiegt schwerer

Das LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 10.02.2022, Az. 17 Sa 57/21) hob die Entscheidung der Vorinstanz auf. Es folgte der gängigen Rechtsprechung und prüfte die Kündigung auf drei Ebenen:

  1. Negative Gesundheitsprognose: Ist eine baldige Genesung unwahrscheinlich
  2. Betriebliche Beeinträchtigung: Wird der Betriebsablauf erheblich gestört?
  3. Interessenabwägung: Wiegen die Interessen des Arbeitgebers schwerer als die der Arbeitnehmerin?

Das Gericht ließ offen, ob die ersten beiden Punkte erfüllt waren. Entscheidend war die dritte Stufe: die Verhältnismäßigkeit. Hier sah das LAG die Kündigung als unverhältnismäßig an. Der Grund: Der Arbeitgeber hätte erneut versuchen müssen, ein bEM durchzuführen, bevor er zur Kündigung griff.

Landgericht beruft sich auf frühere Entscheidungen

Das LAG stützte sich dabei auf eine frühere Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 18.11.2021, Az. 2 AZR 138/21). Demnach muss ein Arbeitgeber grundsätzlich ein neues bEM anbieten, wenn ein Beschäftigter nach einem bereits durchgeführten (oder versuchten) bEM innerhalb eines Jahres erneut länger als sechs Wochen krank ist.

Dies gilt auch, wenn seit dem letzten bEM-Versuch noch kein volles Jahr vergangen ist. Versäumt der Arbeitgeber dieses erneute Angebot, muss er im Kündigungsprozess beweisen, dass ein bEM objektiv nutzlos gewesen wäre – eine sehr hohe Hürde.

Zustimmung des Integrationsamts: Kein Freifahrtschein für Kündigung

Besonders interessant ist die Bewertung der Zustimmung durch das Integrationsamt. Der Arbeitgeber argumentierte möglicherweise, diese Zustimmung belegen würde, dass ohnehin keine milderen Mittel (wie Anpassungen durch ein bEM) möglich gewesen wären.

Das LAG widersprach dieser Sichtweise deutlich. Es argumentierte, dass die Zustimmung des Integrationsamts keine Vermutung dafür begründet, dass ein bEM die Kündigung nicht hätte verhindern können.

Eine solche Vermutungswirkung würde, so das LAG, schwerbehinderte Menschen im Kündigungsschutzprozess schlechter stellen als nicht behinderte Arbeitnehmer. Denn nur bei schwerbehinderten Menschen ist die Zustimmung des Integrationsamts überhaupt erforderlich.

Würde man dieser Zustimmung eine solche weitreichende Wirkung beimessen, wäre der Schutz, den das bEM bieten soll, für diese Gruppe indirekt geschwächt. Das Gericht verwies darauf, dass das BAG diese Frage (Übertragbarkeit der Rechtsprechung zum Präventionsverfahren auf das unterlassene bEM) in einem früheren Urteil (20.11.2014 – 2 AZR 664/13) bewusst offengelassen hatte.

Im konkreten Fall sah das LAG Potenzial für ein erfolgreiches bEM. Denkbare Maßnahmen wären gewesen:

  • Eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit.
  • Die Zuweisung eines Arbeitsplatzes in einem Einzelzimmer.
  • Die Bereitstellung eines Headsets mit aktiver Geräuschunterdrückung.

Diese Optionen hätte der Arbeitgeber im Rahmen eines erneuten bEM prüfen müssen.

Das bEM: Mehr als nur eine lästige Pflicht

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist in § 167 Abs. 2 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) verankert. Es ist keine freiwillige Leistung, sondern eine gesetzliche Verpflichtung für Arbeitgeber. Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, muss der Arbeitgeber aktiv werden.

Ziel ist es, gemeinsam mit dem betroffenen Mitarbeiter und eventuell weiteren Stellen (Betriebsrat, Betriebsarzt, Integrationsamt etc.) Wege zu finden, um die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, erneuter Krankheit vorzubeugen und den Arbeitsplatz zu erhalten.

Das bEM ist ein systematischer Suchprozess nach Lösungen. Es dient nicht dazu, Kündigungsgründe zu sammeln. Vielmehr soll es klären, ob und wie der Mitarbeiter weiterbeschäftigt werden kann – möglicherweise durch Anpassungen des Arbeitsplatzes, veränderte Tätigkeiten, technische Hilfsmittel oder Qualifizierungsmaßnahmen.

Datenschutz ist dabei ein wichtiger Aspekt. Die Teilnahme am bEM ist für den Arbeitnehmer freiwillig, und er muss der Verarbeitung seiner Gesundheitsdaten zustimmen. Wie der Fall zeigt, entbindet eine verweigerte Zustimmung den Arbeitgeber aber nicht automatisch von seiner Pflicht, das bEM anzubieten und ggf. später erneut anzustoßen, wenn die Voraussetzungen wieder vorliegen.

BAG bestätigt: Erneutes bEM ist Pflicht

Das LAG Baden-Württemberg hatte die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen (Az. 2 AZR 162/22). Das BAG hat am 18. Mai 2023 entschieden und die Entscheidung des LAG im Wesentlichen bestätigt.

Das höchste deutsche Arbeitsgericht stellte klar: Auch wenn ein Arbeitnehmer die Zustimmung zur Datennutzung in einem ersten bEM-Verfahren verweigert, muss der Arbeitgeber bei erneuter oder andauernder Arbeitsunfähigkeit nach § 167 Abs. 2 SGB IX prüfen, ob die Voraussetzungen für ein erneutes bEM-Angebot vorliegen.

Das Unterlassen dieses erneuten Angebots kann die Kündigung unverhältnismäßig machen. Die Zustimmung des Integrationsamts entbindet den Arbeitgeber nicht von dieser Pflicht und begründet keine Vermutung für die Nutzlosigkeit eines bEM.

Was Arbeitnehmer wissen sollten: Ihre Rechte kennen und nutzen

Für Beschäftigte ergeben sich aus diesem Fall wichtige Erkenntnisse:

  • Sie haben ein Recht auf bEM: Ihr Arbeitgeber muss es Ihnen anbieten, wenn Sie länger krank sind.
  • Teilnahme ist freiwillig, aber oft sinnvoll: Nutzen Sie das bEM als Chance, gemeinsam nach Lösungen für Ihre Gesundheit und Ihren Arbeitsplatz zu suchen.
  • Datenschutz beachten: Sie müssen der Verarbeitung Ihrer Gesundheitsdaten zustimmen. Lassen Sie sich genau erklären, welche Daten wofür genutzt werden. Eine Verweigerung kann das Verfahren stoppen, schützt aber nicht automatisch vor Kündigung, wenn der Arbeitgeber später nachweisen kann, dass ein bEM nutzlos gewesen wäre (was aber schwer ist).
  • Lange Krankheit ≠ Automatische Kündigung: Selbst nach sehr langer Abwesenheit ist eine Kündigung nicht rechtens, wenn der Arbeitgeber seine bEM-Pflichten verletzt hat. Das Urteil stärkt Ihre Position erheblich.
  • Aktive Mitarbeit kann helfen: Bringen Sie eigene Vorschläge für Anpassungen ein (z. B. benötigte Hilfsmittel, andere Tätigkeiten).