Mit Beschluss (Az. VI B 95/13) hat der Bundesfinanzhof (BFH) klargestellt, dass steuerliche Vergรผnstigungen fรผr schwerbehinderte Menschen mit dem Datum des Verwaltungsbescheids erlรถschen, der den Grad der Behinderung (GdB) auf unter fรผnfzig herabsetzt.
Die Richter verneinten ausdrรผcklich eine Nachwirkungs- oder Schutzfrist und stellten damit das Einkommensteuerrecht jenseits sozialrechtlicher รbergangsregelungen auf eine neue Grundlage.
Eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an, sodass die Linie der Finanzrichter bis heute gilt.
Inhaltsverzeichnis
Der konkrete Streitfall
Der Klรคger hatte seit 1994 einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 80. Ende 1999 setzte das zustรคndige Amt den Grad jedoch auf 20 herab. Zwar behielt der Ausweis aufgrund des laufenden Rechtsstreits formell seine Gรผltigkeit bis Mitte 2007, materiell aber war die Herabsetzung sofort wirksam.
Als das Finanzamt deshalb ab dem Bescheiddatum keine erhรถhten Werbungskosten mehr anerkannte โ etwa die tatsรคchlichen Fahrtkosten zur Arbeitsstรคtte statt der Entfernungspauschale โ zog der Betroffene vor Gericht. Finanzgericht und BFH folgten jedoch der Verwaltung: Maรgeblich sei allein der Neufeststellungsbescheid, nicht die fortbestehende Ausweiskarte.
Warum der Schwerbehindertenausweis fรผr das Steuerrecht kein Beweis (mehr) ist
Nach Lesart des BFH liegt der Schwerpunkt des Steuerrechts auf der Gleichmรครigkeit der Besteuerung und der Leistungsfรคhigkeit. Sobald behinderungsbedingte Mehraufwendungen objektiv nicht mehr zu erwarten sind, entfรคllt der sachliche Grund fรผr steuerliche Privilegien.
Damit genieรt der Neufeststellungsbescheid Vorrang vor dem Ausweis, dessen Beweisfunktion โdrittยญwirkendโ zwar im Sozial- und Verwaltungsrecht tragfรคhig bleibt, fรผr steuerliche Zwecke jedoch zurรผcktritt.
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Sozialrechtliche Schutzfrist trifft auf fiskalische Realitรคt
Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch sieht in ยง 199 SGB IX (ehemals ยง 116) eine dreiยญmonatige Schutzfrist vor, damit Betroffene nach dem Verlust des Schwerbehindertenยญstatus nicht โvon heute auf morgenโ sozialrechtlich schutzlos sind.
Diese Nachwirkung verhindert Kรผndigungen oder ermรถglicht weiterhin den Bezug einer Altersrente fรผr schwerbehinderte Menschen.
Der BFH betont jedoch, dass die steuerlichen Regeln keine solche รbergangsbestimmung kennen und auch nicht benรถtigen, weil sich die steuerliche Begรผnstigung an realen Mehrkosten und nicht an einem Schutzgedanken orientiere.
Rรผckwirkende Bescheide und Zinslast
Fรผr den Klรคger hatte die Entscheidung erhebliche finanzielle Folgen. Das Finanzamt setzte die Einkommensteuer fรผr die Jahre 2000 bis 2004 ohne die erhรถhten Fahrtkosten an und erhob fรผr diesen Zeitraum Nachzahlungszinsen. Fรผr die Jahre 2005 bis 2007 blieb es bei der einfachen Entfernungspauschale.
Damit unterstreicht das Urteil, dass Steuerbescheide auf Grundlage eines herabgesetzten GdB nicht nur prospektiv, sondern rรผckwirkend angepasst werden dรผrfen, wenn noch keine Festsetzungsverjรคhrung eingetreten ist.
Welche Vergรผnstigungen konkret entfallen
Mit dem Absinken des GdB unter fรผnfzig endet die Mรถglichkeit, tatsรคchliche Wegekosten abzusetzen.
Gleiches gilt fรผr begรผnstigte Familienheimfahrten im Rahmen einer doppelten Haushaltsfรผhrung. Auch der erhรถhte Behinderten-Pauschยญbetrag und andere steuerliche Nachteilsausgleiche knรผpfen an den Status โschwerbehindertโ an und entfallen, sobald dieser offiziell nicht mehr besteht.
Das BFH macht deutlich, dass selbst ein noch gรผltiger Ausweis oder eine laufende sozialgerichtliche Klage daran nichts รคndern kann.
Kritik aus Beratungspraxis
Sozialrechtsexperten werfen dem Beschluss vor, dass er einen Widerspruch zwischen Steuer- und Sozialrecht manifestiere und Betroffene in eine unerwartete finanzielle Schieflage bringe.
“Die Richter verweisen hingegen auf den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes: Wer keinen behinderungsbedingten Mehraufwand mehr hat, dรผrfe nicht lรคnger steuerlich bessergestellt werden als andere”, so Dr. Utz Anhalt von Gegen-Hartz.de.
Handlungssoptionen fรผr Betroffene
Wer einen รnderungsbescheid zum GdB erhรคlt, sollte umgehend prรผfen, ob die Herabsetzung gerechtfertigt ist, und fristgerecht Widerspruch einlegen. Gleichzeitig empfiehlt es sich, Rรผcklagen fรผr mรถgliche Steuernachzahlungen zu bilden.
Nachforderungszinsen lassen sich zwar kaum vermeiden, doch eine freiwillige Anpassung der Lohnsteuerklassen oder Vorauszahlungen kann die Zinslast mindern. Frรผhzeitige fachliche Beratung โ steuerlich wie sozialrechtlich โ bleibt der wirksamste Schutz vor bรถsen รberraschungen.