Auch wer seit Jahren unter Sehstörungen leidet, kann deshalb keinen höheren Grad der Behinderung in Anspruch nehmen. Das gilt zumindest, bis ein organischer Befund vorliegt. So entschied das Bundessozialgericht. (B 9 SB 4 / 21 R).
Sehstörungen und Sonderpädagogik
Die Betroffene litt bereits in der Schulzeit unter zunehmenden Sehstörungen und nahm deshalb an Förderungen durch die Sonderpädagogik teil und nutzt Blindenstöcke. Sie hat einen festgestellten Grad der Behinderung von 40 und gilt damit nicht als schwerbehindert, denn dieser Status besteht erst ab einem Grad der Behinderung von 50.
Klage durch mehrere Instanzen
Sie klagte durch mehrere Instanzen des Sozialgerichts, um einen höheren Grad der Behinderung zu erhalten. Vor dem Landessozialgericht bekam sie Recht. Dieses bescheinigte ihr einen Grad der Behinderung von 70.
Das Gericht begründete das Urteil damit, dass die Klägerin ein erheblich herabgesetztes Sehvermögen habe; dieses Krankheitsbild ziehe sich ohne Widersprüche und konsistent durch ihr Leben, obwohl die Befunde keine organische Erklärung für diese Einschränkungen ergäben und sogar auf ein besseres Sehvermögen schließen ließen.
Trotzdem erlebe die Betroffene die Einschränkungen real, und damit müsse das zuständige Versorgungsamt den höheren Grad der Behinderung anerkennen.
Erforderlicher Nachweis fehlt
Das Versorgungsamt akzeptierte die Entscheidung nicht, schloss nicht aus, dass die Klägerin vortäuschte und legte Revision vor dem Bundessozialgericht ein. Die Behörde argumentierte, solange die Ursache unklar bliebe und eine Simulation möglich sei, fehle der erforderliche Nachweis für einen höheren Grad der Behinderung.
Es gebe sogar Tatsachen (also die organischen Befunde), die dagegen sprächen, dass die Sehfunktion in dem behaupteten Ausmaß eingeschränkt sei.
Die Behörde verwies außerdem auf die Versorgungsmedizin-Verordnung. Dieser zufolge ließen sich Sehstörungen zwingend nur beurteilen, wenn ein morphologischer Befund vorliege und die Störung einem der von der Verordnung genannten Funktionssysteme zugeordnet werden könnte.
Sind die Sehstörungen neurologisch oder psychisch bedingt?
Das Bundessozialgericht hob das vorherige Urteil auf und wies den Fall zur Neuverhandlung an das Landessozialgericht zurück. Denn die bisher festgestellten Tatsachen ließen es nicht zu, das Versorgungsamt zu verurteilen, einen höheren Grad der Behinderung festzustellen.
Ein morphologischer Befund sei zwingende Voraussetzung, um einen höheren Grad der Behinderung wegen einer Sehstörung festzusetzen. Die Zuordnung gesundheitlicher Einschränkungen laut den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen ließe allerdings offen, ob Sehstörungen der Psyche oder dem Sehapparat entstammten.
Kann Widerspruch aufgelöst werden?
Im Unterschied zu der Einschätzung des Landessozialgerichts bestünde ein unauflösbarer Widerspruch zwischen den Angaben der Klägerin und den objektiven augenärztlichen Gutachten.
Wenn das Landessozialgericht das Verfahren wieder eröffne, dann müsse ermittelt werden, ob sich die von der Klägerin angegebenen Sehstörungen aus Nervensystem und Psyche erklären ließen, oder ob sich der Widerspruch zwischen subjektiven Angaben und objektiven Befunden anders auflösen lasse. Wenn beides nicht der Fall sei, dann ginge die objektive Beweislast zulasten der Klägerin.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.